Nils Wanderer: »Manchmal wünschte ich, weniger empfindsam zu sein.«

Nils Wanderer Portrait

»Ich wollte nur danke sagen«, tastet sich die Frau, die bis eben im Café noch am Nachbartisch saß, vorsichtig an uns heran. »Unser Gespräch hat Sie nicht gestört?«, hakt Nils Wanderer sofort nach. »Nein, im Gegenteil. Es war für mich ein Geschenk. So ein tiefgründiger Austausch. Es ist einfach zu mir gekommen. Vielen Dank.« Bevor die Fremde geht, ermuntere ich sie am Abend zur Freilichtbühne Schwerin zu kommen. Nils Wanderer wird mit seiner Stimme das Konzert von Conchita Wurst bereichern, die mit der Mecklenburgischen Staatskapelle auf der Bühne steht. Doch zuvor nimmt sich der 32-jährige Countertenor noch Zeit, mir einen Blick in seine Gefühlsgalerie zu gewähren.

Den noch offenen Fragen widmen wir uns nach der kurzen Unterbrechung, wobei wir uns einig sind, dass die Frau wirklich Mut bewiesen hat. »Das passiert mir regelmäßig. Es ist, als ob eine Tür offensteht. Dann bin ich in dieser emotionalen Welt. Auch beim Singen. Und ich spüre genau, wann sie geschlossen ist. Dann sind alle Antennen aus und niemand bemerkt mich.«

Dass Nils die Gabe hat, Menschen auf besondere Weise mit seiner Stimme zu berühren, habe ich am eigenen Leib im Theater des Westens erfahren. Dieses Leben hat seinen Preis, und so ist es mir eine Ehre, dass ich hinter die Kulissen des Künstlers blicken durfte.

 

»Es gibt Momente in diesem Business, die mir nicht gefallen.«

 

Nils Wanderer Portrait
© Guido Werner

Manchmal sind es kleine Brüche in uns, durch die das Licht fällt. Wenn du an dein jüngeres Ich denkst, in welchem Moment hätte es deine Worte gebraucht und welche wären es gewesen?

Ich komme aus einem kleinen Dorf und habe in dem Sinne Homophobie eigentlich nie wirklich erlebt. Obwohl ich ein sehr bunter Junge war, wurde ich immer davor beschützt. Aber ich glaube, in den ersten Jahren des Gymnasiums, hätte ich schon gerne sagen wollen: Vertrau auf dich. Alles kommt, wie es kommt. Versteck dich nicht und bleib dir wirklich treu.

Es gab ein, zwei Jahre, in denen ich versucht habe, mich anzupassen. In denen ich mein Licht ein bisschen gedimmt habe. Ich wünsche mir bis heute, und das gilt sowohl für den Nils von damals, als auch für den Nils von morgen, in der Wirklichkeit, der Wahrheit und der Ehrlichkeit zu leben. Das ist mir unheimlich wichtig. Beim Singen klappt es bei mir zuverlässig. Privat nicht immer. In diese Wahrhaftigkeit zu kommen und diesen echten Moment zu suchen, das ist das Ziel. Selbst wenn in dem Moment Schmerz da ist oder Enttäuschung. Trauer oder Freude. Liebe. Alles mitzunehmen, daraus zu lernen.

Worin liegt die Herausforderung im Privaten in deiner Wahrheit zu bleiben?

Einerseits ist es dieser Wunsch, es den Menschen recht machen zu wollen. Ich meine Familie, Freunde und Partnerschaften. Mein Beruf ist, gelinde gesagt, für ein Privatleben sehr strapazierend. Ich bin immer unterwegs. Auf der anderen Seite versuche ich, mir Zeit für mich zu nehmen, was auch nicht einfach ist. Oftmals gehe ich Kompromisse ein, die ich gar nicht eingehen möchte. Ich möchte Menschen nicht verletzen, sie beschützen.

Ein paar meiner Freunde sind große Vorbilder für mich. Die sagen einfach: Pass auf, heute kann ich nicht. Heute ist der Tag, an dem ich mich ausruhen muss. Und ich bin dann eher noch in drei verschiedenen Gastwirtschaften, weil ich es meinen Freunden versprochen habe. Ich genieße es schon, aber ich glaube, es wäre für uns alle schöner, wenn ich klar kommunizieren würde, was ich brauche. Denn dann ist die Zeit, die wir gemeinsam haben, wertvoll. Ist sie immer, aber lebendiger. Mehr im Hier. Nicht schon mit meinem Kopf beim nächsten Projekt. Oder noch im Jetlag und vom Tanzen gestern, Schmerzen im Bein oder whatever.

Opernmaske Nils Wanderer
© Guido Werner

Kannst du dich daran erinnern, wann du das letzte Mal bereut hast, Countertenor geworden zu sein?

Reue ist ein starkes Wort. Es gibt Momente in diesem Business, die mir nicht gefallen. Deswegen ziehe ich mich aus der Opernwelt gerade ein bisschen raus. Es sind nur noch Projekte, die ich wirklich wertschätze. Die mit einem zeitgenössischen Anspruch kommen. Unsere Gesellschaft reflektieren und mir die Chance geben, interessante, tiefgründige, kreative Charaktere darzustellen. Es ist schon so, dass es auch Momente gibt, in denen das Business und der finanzielle Vorteil wichtiger sind als die eigentliche Kunst.

Ich bin Sänger geworden, weil ich Menschen erreichen möchte. Mein Ziel ist es, zu kommunizieren, zu verbinden und einen Moment ihrer Zeit geschenkt zu bekommen, um ihn auf besondere Weise zu verändern. Und eben nicht irgendeine Rolle zu spielen, weil sie gerade wichtig ist und gut ankommt. Mir geht es darum, dass die Menschen fühlen. Man sagt immer, der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Das stimmt auch. Aber was für einen Köder wirfst du aus? Mir geht es um mehr als nur Unterhaltung und Volksfeststimmung. Ich möchte, dass die Menschen kommen und danach wirklich bewegt nach Hause gehen.

 

»Das macht mich sehr groß und sehr klein.«

 

Du stehst auf vielen großen Bühnen, bekommst Standing Ovations. Und doch sagst du an anderer Stelle, dass es deine Momente der großen Demut sind.

Ja, auf jeden Fall.

Festival "Wanderer zwischen den Welten"
© Thorben Keppel

Was macht dich in solchen Augenblicken demütig?

Mein Elternhaus ist ein sehr bodenständiges. Meine Mutter hat sich mit fünfzig Jahren entschieden Krankenschwester zu werden. Angefangen hat sie als Friseurin, dann eine Firma mit meinem Vater geleitet. Manchmal mache ich mehr mit einer Show, als mein Vater früher im Monat verdient hat.

Außerdem darf ich das machen, was ich liebe. Es ist manchmal harte Arbeit, aber es ist auch immer wunderschön. Dann die vielen Menschen. Seien es fünfhundert, 15.000 oder 85.000 – kam alles schon vor. Diese Menschen für eine halbe oder ganze Stunde mit meiner Kunst beglücken zu dürfen. Feedback zu bekommen. Das macht mich sehr groß und sehr klein. Dass meine Stimme, wofür ich viele Jahre studiert habe, Menschen bewegen oder auch freudig erregen kann, ist ein ganz intensives Erlebnis.

Die Demut bezieht sich auf das Publikum?

Nicht nur. Ich habe große Demut vor der Musik und den Menschen, die mir meinen Weg geebnet haben. Das ist alles eine Teamleistung. Ich wäre niemand ohne die Menschen im Hintergrund. Niemals werde ich müde, das zu sagen. Ich finde das als Künstler wichtig. Das geht auch in die Stimme rein. Ich glaube, wenn du zum Beispiel so ein Großkotz bist, dann verschließt dir das die letzte Ebene zum Publikum. Ich will danach auch, dass die Menschen sich mit mir identifizieren, genauer gesagt, sich verbinden können. Für mich sind die schönsten Momente nach der Show, wenn Menschen kommen und sagen: Hey, danke, mir hat es ganz arg gefallen. Deswegen mache ich es.

Aber es hat seinen Preis …

Ja, ich könnte mir auch vorstellen, mal ein Jahr in einem Ort zu bleiben. So ist es nicht. Ich habe nichts dagegen, mal ein Jahr in Berlin zu leben. Irgendwo zu arbeiten, als Koch. Ein schönes Leben haben. Das wäre alles kein Problem. Aber ich habe mich für die Musik entschieden, weil ich hoffe, damit Menschen zu erreichen. Und wenn dann das Feedback kommt, dann ist das schon sehr besonders. An dieser Stelle werde ich demütig.

 

»Der erste Ton entscheidet.«

 

Ich stelle mir Demut manchmal wie das Feigenblatt der Angst vor – nicht gut genug zu sein.

Auf jeden Fall. Das begleitet mich jeden Tag meines Lebens. Und ich glaube, da kann ich für fast alle meiner Kollegen sprechen, die ungefähr auf meinem Level sind. Du findest selbst bei den bekanntesten Kollegen Unsicherheiten. Eine leise Stimme, die fragt: Oh Gott, war das gut genug? Viele sagen, das ist der Motor für Verbesserung. Das mag auch sein. Aber was für ein scheiß Motor. Nervig und oft auch wirklich zum Haare sträuben. Unangenehm.

Ich möchte die beste Version meiner Selbst sein, weil ihr Tickets kauft und mir eure Zeit schenkt. Für viele Menschen ist das auch mehr als nur Musik. Ich will jetzt nicht Heilung sagen, aber eine Form von Erleichterung. Ein Gefühl von: Da kann ich mich fallen lassen. Das hilft mir, gute Energie zu sammeln. Wer wäre ich denn, wenn ich nicht alles dafür geben würde? Wenn das mein Beitrag ist, den ich leisten kann, dann würde ich alles geben. Dennoch gibt es so ein paar innere Saboteure, die dann sagen: Nee, nee, ich glaube, das war nicht so gut.

Wie gehst du mit der Selbstsabotage um?

Nils Wanderer mit seinem Hund
© Privat

Als Künstler muss ich mich sehr mit mir auseinandersetzen. Mir Zeit für mich nehmen. Was mir hilft, ist Zeit mit Freunden und Familie zu verbringen. Mit meinen Hunden draußen zu sein. Natur und den Kopf freizubekommen. Meist stelle ich in solchen Momenten fest, dass das alles nicht immer so groß und wichtig ist, sondern mein Handwerk. Sehr bestärkend ist außerdem das Feedback der Menschen. Sei es über Social Media. Sei es nach dem Konzert. Solange mich Menschen hören möchten, werde ich auch singen. Das ist der Grund, warum ich auf dieser Welt bin, zumindest in diesem Leben.

 

Was ist intensiver, der Moment direkt vor dem Auftritt, wo noch alles möglich ist, oder eher, wenn du von der Bühne runtergehst?

Der Moment vor der Bühne ist der, in dem wirklich alles zusammenkommt. Freude, Aufregung, eine gewisse Portion blanke Panik und Angst kann auch da sein. Der erste Ton entscheidet. Er zeigt mir, wo ich heute stehe. Ob ich richtig arbeiten muss oder es laufen lassen kann. Ob ich technisch unterstützen muss oder wirklich ganz in die Emotionen gehen kann.

Du hast als Sänger vielleicht in deinem Leben zehn Konzerte, von denen du sagst: Das war komplett perfekt! Es hätte nicht besser laufen können. Es gibt so viele Einflüsse. Vielleicht habe ich noch Jetlag oder eine leichte Erkältung oder aber eine Trennung hinter mir. Es gibt immer irgendwas. Wir haben das einzige Instrument auf der Welt, das von uns selbst gleichzeitig hergestellt und gespielt wird. Da müssen so viele Faktoren stimmen.

 

»Wann ist Kunst nicht grausam?«

 

Also der Moment vor dem Konzert …

Ozawa Festival 2025
© Privat

Davor ist die Aufregung groß. Danach ist es meistens Freude und Erleichterung. Ich bin auch schon öfter mal komplett enttäuscht von der Bühne runtergegangen. Und der Witz ist: Die Konzerte, bei denen ich enttäuscht bin, haben immer eine extrem positive Reaktion. Da denke ich mir so: Was ist denn bei euch los? Das Schönste ist, wenn ich runtergehe, erleichtert bin und den Menschen hat es gefallen. So, dass ich weiß: Okay, wir haben es geschafft. Wir haben den Leuten einen Abend geschenkt. Davon können sie zehren. Wir zehren auch davon. Davor ist es crazy, danach schön.

Eine spannende Ambivalenz zwischen: Du bist auf dieser Welt, um genau das zu tun, denn das ist deine Passion, und dem Druck, es richtig gut machen zu wollen. Gegenteiliger könnte es nicht sein, oder?

Mein Kumpel hat mal einen Satz zu mir gesagt, als ich für eine Person spielen sollte und alles sehr stressig war. Ich meinte zu ihm: Ich kann das nicht mehr. Und er nur so: Wann ist Kunst nicht grausam? Ein Satz, der auch auf unser Album kommt. Es ist einfach so. Das ganze Spiel von Licht und Schatten. Davon leben wir.

Ich bin als Künstler ein Seelensänger. Nicht so ein virtuoser Paradiesvogel, wie viele meiner Kollegen – die das ganz toll machen. Ich bin eher so aus dem Schatten kommend. Ein bisschen dunkler, mysteriöser von der Art her. Denn ich möchte Seelen erreichen. Das braucht eine andere Energie, eine ganz andere Präzision und auch einen Fokus.

Ich ziehe sehr viel aus meinen dunklen Tagen oder aus meiner dunklen Seite. Da kommt meine Energie her. Für mich gäbe es auch ohne diesen Schatten kein Licht. Es erleichtert mir das Leben ein bisschen, macht es erträglicher, weil ich zum Beispiel in schweren Zeiten weiß, dass sie Nährboden für die nächsten Konzerte sind. Ich verwerte sie sozusagen und kann euch dafür wieder etwas geben, das euch bewegt.

 

»Wir sind sehr feinfühlige, wache, aufmerksame Menschen.«

 

Ist es eine Gabe?

Schwere Gabe, aber ja. Manchmal würde ich mir eine gewisse Stabilität wünschen. Ich bewundere meine Freunde, die wirklich jahrelang so ein Leben führen, in dem alles einfach gut ist. Bei mir ist es das Highest High oder Lowest Low – dazwischen ist nicht sehr viel.

Wow.

Die Highest Highs sind wirklich, dass ich denke: Wow, was für eine Zeit, am Leben zu sein. Was für Menschen. Was für eine Freiheit. Und dann kann es auch wieder sein, dass alles zusammenbricht. Aber das ist der Lauf des Lebens. Und das ist eben unsere Karriere. Wir sind sehr feinfühlige, wache, aufmerksame Menschen. Mir entgeht eben auch nichts. Manchmal wünschte ich, weniger empfindsam zu sein.

Nils Wanderer Portrait
© Guido Werner

Das ist auch eine Superpower, oder?

Ja. Ich könnte dir jetzt noch sagen, wie die Frau aussah, die hier vor fünf Minuten entlang ging. Mit dem weißen Haar, dem goldenen Ring, ihren pinken Schuhen, der weißen Hose und dem gestreiften Shirt. Ich beobachte das automatisch. Als Schauspieler kann ich es gar nicht abstellen. So beobachte ich aber auch mich. Bedeutet natürlich, dass jede kleine Geschichte sofort reflektiert wird.

 

»Sie ist der erste Mensch, der jetzt da oben ist, den ich wirklich gerne wiedersehen will.«

Lass uns einen Blick in deine Gefühlsgalerie werfen. Gibt es ein Bild tiefer Trauer, das du mit mir teilen möchtest?

[Überlegt.] Vor kurzer Zeit ist meine Großmutter gestorben. Sie war der wichtigste Mensch in meinem Leben – oder ist es. Wenn ich ältere Damen mit roten Fingernägeln und goldenen Ringen sehe, denke ich sofort an meine Oma. Das habe ich noch nie gesagt. Ich bin auf diese Hände fixiert und dann spüre ich sie auch. Das ist eine sehr tiefe Trauer. Aber auch enorme Erleichterung. Sie litt am Ende an Demenz.

Ihre Hände gaben mir dreißig Jahre lang diese absolute Wärme und haben mich behütet und zu dem gemacht, der ich bin. Das ist ein starkes Bild. Diese älteren Hände mit den roten Fingernägeln, den Ringen. Ich werde es mir tätowieren lassen, weil ich es für mich brauche. Sie war eine sehr gepflegte, wunderschöne Frau. Und der moralische Kompass war nie aus. Das ist Wahnsinn. Ich habe ihr sehr, sehr viel zu verdanken, was meinen Charakter angeht. Ich bin sehr froh, dass ich sie hier hatte.

Nils Wanderer mit seiner verstorbenen Oma
© Privat

Mein Beileid …

Danke. Auch hier kam das Thema auf, etwas für mich mitzunehmen. Diese Erfahrung war überwältigend. Die ersten zwei Wochen war ich heiser. Ich konnte nicht singen, nicht sprechen und war wirklich ganz auf sie fokussiert. Dennoch habe ich gearbeitet, inszeniert. Die Trauer kommt immer mal wieder in Wellen.

Es gibt aber auch viele Tage, an denen ich denke: Heute ist es schön. Danke dir [blickt gen blauen Himmel], dass du mir das möglich machst. Inzwischen ziehe ich viel für mich aus diesem Verlust. Ich hatte große Angst vor dem Tod. Das hat sie mir sehr erleichtert. Ich weiß, sie wird schon warten, wenn ich komme. Sie ist der erste Mensch, der jetzt da oben ist, den ich wirklich gerne wiedersehen will.

Dann reicht sie dir die Hand?

Schönes Bild. Schmerzvoll, aber ja. Es war so schön mit ihr. Sie war eine Frau, die es uns allen einfach gemacht hat. Selbst in ihrer Demenz. Und zum Schluss ist sie einfach eingeschlafen. Meine Mutter hatte es im Gefühl. Sie hat ohnehin eine übernatürliche Gabe. Es ist unfassbar, wie sie mit Menschen umgehen kann. Sie meinte, morgen um zwölf Uhr stirbt sie. Und am nächsten Tag trat es ein. Die Tage vor dem Tod meiner Oma waren geprägt von ihrer Demut. Und sehr viel Dankbarkeit. Sie hätte es uns nicht leichter machen können, sie gehen zu lassen. Meine Oma hat es geschafft, alle beieinander zu halten. Dafür bin ich sehr dankbar. Bis zum Schluss so viel Größe und Grace.

 

»Es gibt keinen doppelten Boden, kein Netz.«

 

Bemerkenswert, dass du einerseits Angst vor dem Tod hattest, ihn in »Romeo und Julia« andererseits inszeniert hast. Gibt es weitere Ängste?

Oh ja, viele. Gerade zwischenmenschlich. Ich bin sehr empathisch und weiß es zu schätzen, wenn mir Menschen beim Kennenlernen ein klares Signal geben: We like you or we don’t. Damit kann ich arbeiten. Manchmal fühle ich zu viel und interpretiere falsch. Am Ende hat meinem Gegenüber der Kaffee nicht geschmeckt. Dann denk ich: Ah, lag wohl doch nicht an mir, dass er so finster schaute.

Außerdem bin ich eher schüchtern oder introvertiert, wenn es um neue Verbindungen geht. Ein Freund lädt mich zum Beispiel ins Restaurant ein und wir sitzen zu zehnt am Tisch. Er stellt mir in Aussicht, dass ich alle kennenlernen werde. Das ist für mich Horror. Ich mache es dann für ihn, bin aber im Performance-Modus. Null ich selbst. Nach und nach geht es dann so ein bisschen. Außerdem – das ist schon lustig – habe ich eigentlich den falschen Beruf gewählt, weil ich Sicherheit nicht schlecht finden würde. Habe ich einerseits durch meine Eltern gelernt, andererseits ist diese Sicherheit null vorhanden. Es gibt keinen doppelten Boden, kein Netz.

Gibt es Auftritte oder Projekte, auf die du heute überhaupt nicht mehr stolz bist?

Auftritt bei Don't you Nomi
© Privat

Das, was ich gemacht habe, war wirklich immer im vollen Sein. Und selbst wenn es heute nicht mehr der Standard von damals ist, war ich in dem Moment stolz darauf, weil ich es mit ganzem Herzen gemacht habe. Ich würde es eher so formulieren. Es gibt Projekte, auf die ich besonders stolz bin. In denen meine DNA komplett verwoben ist. Sei es der Todesengel in »Romeo und Julia« oder »Don’t you Nomi?« – die erste queere Show an der Staatsoper Berlin. Außerdem bestimmte Rollen an großen Häusern, die sehr herausfordernd waren.

Worin lag die Herausforderung?

Solche Rollen, in denen ich meine inneren Dämonen bekämpfen musste. Sei es, Dinge nicht aufzuschieben, sondern ranzugehen. Die schweren Noten jetzt zu lernen oder auch sich auf der Bühne auszuziehen, was für mich als Mensch, der zu seinem Körper nicht immer das beste Verhältnis hatte, nicht immer einfach war. Das ist das Schöne an der Oper und der Welt der Musik, du wirst immer neu herausgefordert. Soweit ich kann, gehe ich darauf ein.

Sehr stolz bin ich auch auf mein Projekt »Wanderer«. Ich mache jetzt meine eigene Musik und komme langsam dahin, wo ich hin möchte. Die Mischung und das Publikum stimmen. Es hat sich auch so drastisch vermischt und ist so divers. Zum Beispiel beim Festival »Zwischen den Welten« in meiner Heimat Ingersheim: alle Altersgruppen, People of Colour, Queer, Drag Queens, Weinbauern, Familie, Freunde, Fremde – es war toll.

 

»Schubladen sind für Schränke.«

 

Klingt verbindend.

Sehr. Von uns, für uns – das war die Idee. Wenn ich das für die anderen schaffe, geht’s mir ausgezeichnet. Dann nehme ich auch alles andere in Kauf. Manchmal auch mein eigenes Seelenleid.

Das klingt in einer Welt, in der man immer in Nischen denken soll, um sein Publikum zu finden, wirklich unfassbar gut.

Ich sage immer: Schubladen sind für Schränke. What the f***? Musik ist Musik und Kunst ist Kunst und es werden sich die Richtigen finden. Je ehrlicher du zu dir selbst bist und mit den Dingen umgehst, in deiner Wahrhaftigkeit lebst, umso stärker ziehst du die Menschen an, die damit resonieren. Das ist wie ein Magnet. Ich musste das auch lernen

Am Anfang wollte ich cooler sein, als ich war. In meinem Publikum saßen nur ältere Damen und keine jungen, hotten Boys oder Girls. Und warum? Weil ich halt einfach Barockmusik machte. It is what it is. Und jetzt mache ich es ja trotzdem, diese F*** Barockmusik, aber inzwischen habe ich ein Publikum, das bei zehn Jahren beginnt und bei neunzig endet. Das ist fantastisch. In den vergangenen Jahren bemerkte ich mehr und mehr diese Veränderung. Ich habe einfach mein Ding gemacht und daran geglaubt, dass es schon wird. Musik verändert Menschen und es ist eine große Verantwortung und eine große Ehre – die Ehre meines Lebens.

 

»Ich mache keine Musik für Professoren. Ich mache Musik für jeden.«

Wanderer zwischen den Welten
© Thorben Keppel

In welche Gefühlsgalerie soll dein Publikum das Bild deines Auftritts hängen?

Ich wünsche mir, dass mein Publikum sehr beseelt nach Hause geht. Dass sie vielleicht auch die Taubheit des Lebens für eine Zeit abstreifen konnten und wieder offen für neue Gefühle sind. Dem einen konnte meine Musik vielleicht bei einer Entscheidung helfen. Dem anderen frische Lebensenergie einflößen, um sich neu zu finden. Neue Kraft zu gewinnen.

Ich wünsche mir auch, dass das Publikum auf eine wunderbare Weise geflasht ist und sie sagen: So groß kann das Leben sein. Niemand soll sich kleiner, weniger wert oder dumm fühlen. Ich mache keine Musik für Professoren. Ich mache Musik für jeden. Ich will, dass sich jeder spürt und wiederfindet und dass jeder Mensch danach mit einem guten Gefühl, einer tiefen Emotion nach Hause geht.

Auch mit einer Trauer, das ist mir gar nicht so wichtig, aber dass sie sich wirklich gesehen und auch integriert fühlen und nicht ausgeschlossen. Manchmal hat die Oper leider noch immer diesen Ruf, von wegen: Da gehe ich nicht hin, weil ich keiner von denen bin, die in die Oper gehen. Du bist unser Zielpublikum. Wir alle sind unser Zielpublikum. Jeder von euch hat das Recht, Musik und Kultur zu erleben. Und das ist eben meine Aufgabe, niederschwellig höchstmögliche Qualität zu liefern. Und deswegen, die Galerie changiert schon wirklich zwischen Licht und Schatten. Mir ist wichtig, dass die meisten Menschen mit einem vollen Herzen nach Hause gehen.

 

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