Julia Lorenzen: »Am Ende ist es ein ganz falsches Spiel.«

Julia Lorenzen beim Berlin Marathon

»Okay, ich hätte gerne Vorbereitungszeit gehabt«, gibt Julia Lorenzen ganz unverhohlen zu und lacht, als ich ihr die erste Frage stelle. Natürlich geht auch sie, wie nahezu jeder Gast, unvorbereitet in das Interview für »Die Galerie deines Lebens«. Meist bereite ich mich auch nur sporadisch vor. Lasse die Dinge lieber laufen.

Julia kenne ich seit 2022. Wir begleiten die jeweils andere in größeren Abständen auf ihrem Weg. Heute bringen wir uns bei einem leckeren Mittagessen auf den aktuellen Stand und schlendern dann in den nahegelegenen Park in Schmargendorf. Erst kürzlich hatte ich die Idee, die Interviews auch als Podcast zu veröffentlichen – »Talk im Park«. Mit der erfahrenen Podcasterin teste ich heute zunächst meine neuen Mikros auf Herz und Nieren. Und die dürfen einiges aushalten. Hubschrauber direkt über uns. Bellende Hunde. Schnatternde Opas. Das alles, während wir uns den Themen Achtsamkeit und Social Media zuwenden. 

 

»Niemand möchte dann um mich herum sein.«

 

Wie viel Rückzug braucht ein achtsames Leben und wie viel Bühne verträgt es trotzdem?

Krasse Frage. Wie viel Rückzug ein achtsames Leben braucht, kann ich nicht beantworten. Ich kann nur sagen, wie viel Rückzug mein Leben braucht. Mein Ich verlangt nach vielen Pausen und Alone-Time. Eine ganz persönliche Zeit, die ich mir im Alltag nehme. Sei es am Morgen, um die Batterie schon so aufzuladen, dass, egal was an dem Tag kommt, ich wenigstens so balanciert bin, dass mich nichts aus der Bahn wirft. Wenn ich das nicht mache, habe ich häufig Sequenzen, zum Beispiel Wutanfälle. Ich ärgere mich über mich. Bin dann ein super schlecht gelaunter Mensch und niemand möchte um mich herum sein.

Rückzug und Alleinsein sind also sehr wichtig?

Das heißt ja nicht, dass ich das immer ganz allein mache. Ich bespreche das schon mit der Familie und versuche auch, den einen oder anderen zu motivieren, weil ich überzeugt bin, dass jeder diese Zeit braucht. Ob der Große, die Kleine oder eben auch mein Mann. Ich versuche, sie einzuladen, diese achtsamen Momente ebenso zu nutzen. Und wenn wir einfach spazieren gehen und uns anschweigen.

Und wie viel Öffentlichkeit oder Bühne verträgt so ein achtsames Familienleben, wenn du dich in Social Media bewegst? 

Mit Instagram habe ich 2019 angefangen. Mein Fokus lag auf einem achtsamen Leben und darauf, sich als Mutter diese kleinen Momente im Alltag zurückzuholen. Viele Momente im Familienalltag überfordern uns einfach. Und ich gehe davon aus, dass diese Auszeiten eben einfach essentiell sind. Mit meinen Ideen habe ich viele Frauen inspirieren können. Und sei es nur, dass ich in der Mittagspause mal eine Runde um den Block gegangen bin. Frauen meldeten sich bei mir, dass sie das nun auch tun, um in Bewegung zu bleiben.

Schönes Feedback.

Ja. Andere schrieben mir voller Dankbarkeit: Hey Julia, Dank dir stehe ich morgens eine halbe Stunde früher auf und lese. Ich habe dieses Jahr schon x Bücher gelesen. Es freut mich ungemein, andere zu inspirieren und zu motivieren. Gleichzeitig war ich nicht nur als Mutter oder Motivatorin auf der Plattform, sondern auch als Content-Creatorin. Das hat mir meine Me-Time geraubt. Zwar auch Kreativität gebracht, aber der Druck wuchs einfach so stetig, dass mein achtsames Leben aus den Fugen geriet. Ich hatte keine Balance mehr und musste deswegen im wahrsten Sinne des Wortes einen Cappuccino-Moment einlegen. Nicht nur fünf Minuten um den Block laufen, sondern eher zwei Monate Social-Media-Pause. Am 30. April 2025 habe ich meinen Rückzug aus dem Rampenlicht angekündigt. Mit einem totalen Befreiungsschlag …

 

»Auf der anderen Seite war ich sehr frustriert.«

 

Welches Gefühl verbindest du mit diesem Befreiungsschlag?

Erleichterung. Im ersten Moment. [Überlegt.] Andererseits auch Versagen. Erleichtert, weil kein Content-Plan. Kein Wie-sehe-ich-morgens-aus? Kann ich mich vor der Kamera zeigen? Habe ich heute überhaupt irgendwas, was ich teilen kann? Wer will das denn schon sehen, was ich so mache? Auf der anderen Seite war ich sehr frustriert.

Warum?

Profilansicht @mamaschreibtnelisteIch hatte ein Profil mit deutlich mehr Followern als jetzt. Das wurde gehackt und ich musste komplett neu anfangen. Es macht einen großen Unterschied, ob du 24.000 oder in Anführungszeichen »nur« 2.000 Follower, wie jetzt mit Cappuccino_momente, hast. Die Sichtbarkeit ist eine komplett andere. Ich habe mich als Versagerin gefühlt, obwohl ich weiterhin Frauen inspirieren konnte.

Warum war dir Sichtbarkeit so wichtig? 

Fragst du mich außerhalb des Instagram-Kosmos, sage ich: Überhaupt nicht wichtig. Denn egal welche Mutter meinen Beitrag gelesen hat und dadurch in ihrem Alltag etwas anpassen konnte, war das ein Gewinn. Andererseits habe ich mich auch mit anderen Accounts verglichen und gesehen: Mein Post hat fünfzehn Likes, der Post der anderen aber dreihundertzehn Likes, warum? Und dann fing ich an, meine eigenen Content-Formate zu ändern. Manchmal rückte ich dabei vielleicht auch in eine Richtung, die mir gar nicht gefiel. Verstellte mich. Am Ende ist es ein ganz falsches Spiel. Ich poste einen Karussellpost, obwohl es besser als Reel funktionieren könnte. Mein Reel wird aber gar nicht gut genug gesehen, weil ich keine Videografin bin. Diese Professionalität, die Instagram mittlerweile angenommen hat, überforderte mich. Ich kann viele Dinge, bin superkreativ und immer total happy, wenn ich mich irgendwo reinfuchsen kann. Aber irgendwann erreichte ich eine Grenze.

Wir sprechen also über den Drahtseilakt Authentizität vs. Algorithmus?

Genau, denn eigentlich möchte ich die Menschen mit meinem Cappuccino-Moment zu digitalen Auszeiten bewegen. Also nicht auf Instagram zu sein. Dieser Inhalt wird aber natürlich nicht so gern auf der Plattform gesehen. Spült Meta ja kein Geld in die Kassen. Mein Ansatz ist im Sinne der Achtsamkeit, Balance und des gesunden, ganzheitlichen Lebens richtig, aber für die Plattform natürlich genau das Gegenteil.

 

»Damals war ich noch ein bisschen verängstigter.«

 

Kommen wir in die reale Welt. Wer ist Julia Lorenzen in diesem Raum voller Erwartungen?

Deep Talk. Ich glaube, ich bin ein … Wer bin ich denn? Das finde ich schwierig. Julia Lorenzen ist eine zweifache Mutter. Glücklich verheiratet. Dieses Jahr zwanzig Jahre mit meinem Mann zusammen. Sehr, sehr happy. Ich wohne in Berlin. Bin eigentlich total gesund, wenn man meinen Arzt fragen würde, und bin glücklich. Julia hat unterschiedliche Rollen. Ich bin Mutter. Ehefrau. Tochter. Schwester. Freundin. Arbeitnehmerin. Die Gefühls-Julia ist sehr tiefgründig. Reflektiert. Selbstkritisch. Ich höre gern zu, rede aber auch unheimlich gern. Ich bin laut, gleichzeitig leise. Neige ein wenig in Richtung Hochsensibilität. Wenn es halt mal laut ist, kann ich gut mitmischen. Ich bin schon sehr outgoing, kann ausgesprochen präsent sein in einem Raum. Gleichzeitig freue ich mich, wenn ich einfach mal alleine sein und mich unter meine Bettdecke verkrümeln kann.

Auf die Frage: Wie gestaltest du dein einzigartiges Leben? hast du im Interview vor zwei Jahren gesagt: Ich versuche die beste Version meiner Selbst zu sein. Als Vorbild für meine Kinder, aber auch als Vorbild für mein inneres Kind. Hat sich daran etwas geändert?

Nee, es hat sich gar nichts geändert. Würde ich jetzt genauso unterschreiben.

Wirklich?

Vielleicht war die Perspektive vor zwei Jahren eine andere. Damals war ich noch ein bisschen verängstigter. Eine gebrochene Person. Das Thema des Newsletters hing mit meiner Ursprungsfamilie zusammen. Ich hatte Schwierigkeiten, mich selbst zu finden, in meinen Rollen als Tochter und Schwester. Das war für mich sehr schwierig einzuordnen und zu definieren. Dieses Vorbildthema habe ich damals forciert, um meinen Kindern zu zeigen: So nicht.

 

»Ich halte viel von Reflexionen.«

 

Und heute?

Heute bin ich wesentlich reifer. Aber ich würde trotzdem immer wieder behaupten, dass ich die beste Version meiner Selbst sein möchte. Damit verbinde ich die Hoffnung, dass meine Kinder in 20 Jahren nicht so kritisch über mich denken, wie ich über meine Mutter.

Du bist eine sehr reflektierte Frau. Die Chancen stehen gut, oder?

Ja, ich halte viel von Reflexionen. Sowohl von gesellschaftlicher als auch von Selbstreflexion. Es ist bedeutungsvoll, gespiegelt zu bekommen, wie ich auf andere wirke. Gleichzeitig möchte ich aber auch schauen, ob mir das jetzt gerade gutgetan hat oder wie ich mich in der Situation sehe.

Wie wichtig ist es dir, mit deinen Kindern über Gefühle zu sprechen?

Es ist eine der wichtigsten Sachen. Morgens ist meine erste Frage: Hast du erholsam geschlafen? Ich möchte auf Nummer sicher gehen, ob meine Kids wilde Sachen geträumt haben oder ob sie irgendetwas belastet. Wenn sie aus der Schule kommen, sprechen wir darüber, wie es ihnen geht. Wie der Tag war. Am besten keine klassischen Ja-Nein-Fragen. Eher: Worüber hast du heute am meisten gelacht? Was hat dich so richtig glücklich gemacht? Mit solch offenen Fragen fangen wir ganz anders an zu sprechen. Das ist mir sehr wichtig, egal ob es positive oder negative Gefühle sind.

 

»Ich habe sofort das Gefühl, komisch angeguckt zu werden.«

 

Lass uns gemeinsam ein paar deiner Gefühlstüren öffnen. Stell dir vor, du gehst in deine Galerie des Mutes. Schau dich in aller Ruhe um. Welche Bilder hängen an der Wand?

Ich bin 2022 alleine nach Wien gefahren. Eine meiner schwierigsten Entscheidungen, aber auch gleichzeitig die einfachste. Ich war eine Woche in Wien. Hatte nur Tickets für die Bahn, mein Hotelzimmer und ein Musical-Ticket. Alles andere war nicht geplant. Weder wo ich esse, noch was ich mache. Wie ich mich beschäftige. Da war ich extrem mutig.

Warum ist es schwierig, loszufahren, ohne zu wissen, wo du essen gehst?

Julia allein in Wien
© Privat

Ich hatte halt keinen Sparringspartner und musste keine Kompromisse eingehen. War auf mich allein gestellt. Einerseits schön, denn wenn du zu zweit bist und der eine will asiatisch, der andere aber italienisch, ist das blöd. Grundsätzlich also gut, allein zu gehen. Aber dann komme ich ins Restaurant und werde gefragt: Wie viele Personen? Dann sage ich: eine! Und habe sofort das Gefühl, komisch angeguckt zu werden. Das ist aber ein Problem, welches ich am ersten Tag hatte, vielleicht noch am zweiten, aber am dritten bin ich viel selbstbewusster. Ich gehe allein auf ein Date, nur mit mir, und genieße jetzt diese Zeit ohne Kompromisse.

Gab es weitere Herausforderungen?

Ja, ich hatte plötzlich so viel Zeit. Zeit nachzudenken, zu reflektieren, und das war teilweise wahnsinnig beängstigend, weil ich über konkrete Gefühle nachdachte. Länger als nur mal fünf Minuten. Sondern wirklich mal eine Stunde nur die Frage: Warum geht es mir gerade so? Warum war ich so nervös, allein essen zu gehen, und was in aller Welt denken diese Leute jetzt über mich, wenn ich hier allein meine Pizza esse? Warum ist es für mich so wichtig? Wenn ich mich dann umgeguckt habe, schien es tatsächlich niemanden zu interessieren. Die Menschen sind entweder mit sich selbst beschäftigt oder gucken aufs Handy. Aber ich habe da in meinem Kopf einen riesigen Film gefahren, weil ich dachte: Ich muss doch wie die größte Versagerin aussehen. Und selbst wenn, sie es denken. Ich sehe die doch nie wieder. Am Ende war es mir auch scheißegal.

 

»Wie peinlich bin ich eigentlich?«

 

Mein Therapeut hat mal zu mir gesagt: Frau Jahnke, hören Sie mal auf zu denken, Sie seien der Nabel der Welt. Nicht jeder macht sich Gedanken um sie. Und ich innerlich so: Wie jetzt? Kein Mensch macht sich Gedanken um mich, wie kann das denn sein?

Umgekehrt machst du dir ja auch nicht über jeden anderen Menschen Gedanken, der an dir vorbeigeht. Aber ich habe neulich eine Reportage mit meinem Sohn geguckt über die Pubertät. Es ging darum, wie das Gehirn eines Pubertierenden funktioniert. Dass sie sich vergleichen und zu Mutproben neigen. So nach dem Motto: Guck mal, was ich alles kann. Aber auch, dass sie schnell denken, sie sind der Mittelpunkt einer Situation. Ich kann in der U-Bahn noch so leise mit ihm reden und er würde denken, dass der da ganz hinten gehört hat, was ich gesagt habe. Wie peinlich bin ich eigentlich? Und deswegen dachte ich, oh Gott, vielleicht bin ich einfach noch in der Pubertät hängengeblieben. [Lacht.] Nach der Wien-Reise hat sich einiges verändert. Auch deshalb hängt dieses Bild in meiner Gefühlsgalerie des Mutes.

Offensichtlich hängt das Bild aus der U-Bahn in der Galerie der Scham deines Sohnes. Wie schaut es bei dir aus: Wann hast du dich geschämt, weil dir etwas richtig peinlich war?

So richtig viel Scham empfinde ich ehrlicherweise gar nicht. Hundertprozentig bin ich auch mal in irgendein Fettnäpfchen getreten oder so. Dann war es mir unangenehm und ich habe mich entschuldigt. Ich glaube, bei der Geburt meines Sohnes. Das war ein bisschen blöd, aber … das würde sicher den Rahmen sprengen. Unter der Geburt ist man ja sehr offen und verletzlich.

Sagst du der Mutter von drei Kindern?

Naja … okay. Mein Sohn steckte im Geburtskanal fest. Ein Mensch musste ihn von außen noch mal kurz reindrücken, weil er dann per Kaiserschnitt kam. Es waren fünfzehn Frauen in diesem Raum, aber der heiße Typ, der musste das natürlich machen. Prost Mahlzeit.

 

»Diese Dramatik entsteht im Kopf.«

 

Okay, dann raus aus der Schamgalerie. Du sagtest, nach Wien habe sich einiges verändert? Was genau?

Ich habe gelernt, dass es okay ist, allein zu sein. Ab dieser Reise konnte ich allein in eine Sauna gehen und war nicht erschrocken von der Stille. Nie im Leben wäre ich zuvor allein auf irgendeine Feier gegangen. Oder auf ein Konzert. Bei Pink war ich nach Wien. Es hat mich noch Überwindung gekostet, eine einzelne Karte zu kaufen. Aber ich bin allein aufgetaucht. Hab mir vorne einen Sekt gekauft. Bin dann da runter ins Olympiastadion. Erst habe ich mich irgendwo an die Seite gestellt und als es losging, war es mir egal. Ich habe einfach getanzt. Und es ist nicht mal aufgefallen, denn ich hätte ja genauso gut zu der Frauengruppe davor oder dahinter gehören können. Ich habe mich so gut gefühlt, dass ich das auch danach nochmal gemacht habe. Wir sollten uns einfach weniger Gedanken um die anderen machen.

Gutes Stichwort: Gedanken. Kennst du das Phänomen auch, dass alles, was im Kopf bleibt, immer sehr viel dramatischer ist, als wenn man es in irgendeiner Form zum Ausdruck bringt?

Reminder to-go
© Privat

Oh ja, mein Kopf funktioniert sehr bildhaft, so dass ich häufig unterschiedliche Szenarien ausmale. Ein banales Beispiel, das mich oft gestresst hat. Ich fahre mit dem Zug irgendwohin. Wenn ich weiß, dass die Bahn um sieben Uhr abfährt, dann kann ich nicht erst zehn vor sieben da sein. Oder noch schlimmer fünf vor sieben. Das würde mich so stressen, dass sich bereits im Vorfeld unterschiedliche Szenarien abspielen. Plan A: Ich nehme von zu Hause eine frühe Bahn, bin pünktlich viertel vor am Bahnhof. Kann mir noch in Ruhe einen Kaffee holen, warte aber auch nicht zu lang. Variante B: Ich verpasse die frühe Bahn, dann wird es knapp. Und es könnte noch schlimmer kommen. Das Gedankenkarussell dreht sich fleißig.

Was passiert dann?

Varianten D, E und F müssen her, wenn ich im schlimmsten Fall sogar mal einen Zug verpasse. Die Welt geht nicht unter. Ist mir auch noch nie passiert. Aber ich versuche tatsächlich einen Tag vorher, alles, was mir Angst macht, in mein Tagebuch zu schreiben. Dazu rate ich auch immer meinen Kindern, damit die nicht erst Albträume bekommen. Mir hat das gut geholfen. Dagegen zu wirken und zu sagen, was mich jetzt gerade beschäftigt, schreibe ich auf. Aus dem Kopf, aufs Papier, Braindumping. Ich bin ein Riesenfan davon, alles einfach raus. Diese Dramatik entsteht im Kopf. Dieses Düstere. Auf dem Papier steht nur: Ich verpasse die Bahn. Das nimmt die Dramatik und stellt mich vor die nüchterne Frage: Okay und jetzt?

 

»Wenn ich aufgeregt bin, habe ich immer das Gefühl, dass meine Stimme zittert und ich hochrot anlaufe.«

 

Was soll passieren?

Die Welt wird nicht untergehen. Egal, was passiert. Wir dürfen uns mehr vertrauen. Und in herausfordernden Situationen ist Angriff manchmal die beste Verteidigung. Als ich meine Bachelorarbeit damals verteidigt habe, saßen da sechs oder sieben Männer und eine Frau, dazu mein Mann mit meinem Sohn hinten im Raum. Ich hatte gerade fertig gestillt, bin nach vorne und hab gesagt: Puh, das habe ich mir ein bisschen leichter vorgestellt. Ich hab’s zu Hause vor meinem Sohn zigmal geübt und er hatte nie was auszusetzen. Kurzer Lacher. Dann sagte ich: Jetzt bin ich so aufgeregt, ich muss erst mal was trinken. Ist ja auch heiß hier drin, oder? Dann hab ich Wasser an die Anwesenden verteilt, was getrunken und schon war die Stimmung viel angenehmer. Wenn ich aufgeregt bin, habe ich immer das Gefühl, dass meine Stimme zittert und ich hochrot anlaufe. Auch das ist nur in meinem Kopf, denn auf Publikum wirke ich wohl immer souverän. Auch hier gilt: Aufschreiben gegen innere Aufregung. Loslassen.

Gibt’s irgendwas, wovor du so richtig Angst hast?

Meine allergrößte Angst ist, dass meinen Kindern etwas zustößt. Das könnte ich nicht verkraften. Da habe ich mich gefühlstechnisch noch nicht getraut, hinzuschauen. Gelegentlich träume ich davon. Ich zwinge mich dann aufzustehen, auch wenn es oft mitten in der Nacht ist, weil ich gar nicht wissen will, wie es im Traum nach dem Verlust weitergeht. In der Traumdeutung könnte es auch bedeuten, dass etwas Gutes kommt. Aber auch da habe ich mich noch nicht herangetraut. In allen anderen Dingen denke ich eher: Wenn ich falle, stehe ich wieder auf.

 

»Das war echt fies.«

 

War diese Einstellung auch nach dem Hackerangriff auf deinen ehemaligen Instagram-Account Mama-schreibt-ne-Liste sofort präsent?

Ja, eigentlich schon. Ich konnte das ja nicht beeinflussen. Natürlich war ich traurig, aber ich glaube … [überlegt] war es Trauer? Schon, aber auch Wut. Die Gefühle kamen in Wellen. Ich war wahnsinnig wütend, dann irgendwie erleichtert, traurig, wieder erleichtert und dann auch ein bisschen motiviert. Am Ende kann es nie so schlimm sein, dass ich nicht noch mal den Neustart versuche, wenn ich es wirklich möchte. Einfach probieren, solange das Ziel noch immer meins ist.

Was rätst du Betroffenen?

Sofort den Kontakt zum Service suchen. Ich habe das gemacht und mit mehreren Mitarbeitern von Meta gesprochen. Die haben mir alle gesagt, man kann nichts machen. Nach vier Monaten habe ich eine Mitarbeiterin aus dem Business Management erreicht und die meinte: Naja, vor ein paar Wochen hätten wir noch was machen können. Das war echt fies. Vielleicht hätte ich am Anfang hartnäckiger sein sollen. Aber hätte, hätte, hätte … Ich kann es nicht ändern. Ich habe nichts davon gehalten, mit einem Anwalt vorzugehen, denn ich verspürte ja auch ein wenig Erleichterung. Wäre es mein einziges finanzielles Standbein gewesen, wäre ich diesen Weg gegangen. Aber ich habe einen Job. Das ist alles immer nur nebenbei.

Lass uns in deine Galerie der Neugier schauen. Was würdest du gern wissen?

Das ist eher spirituelle Neugier. Ich würde gerne wissen, was in fünf bis zehn Jahren aus meinen Kindern wird. Auch was KI anbelangt. Ich habe viele Bücher dazu gelesen und es ist alles immer sehr düster. Aber kann es vielleicht auch in bestimmten Bereichen, z. B. in der Medizin bei bestimmten Krankheiten, Hungersnot, also bei den wirklich wichtigen gesellschaftlichen Themen, nicht auch eine Lösung sein?

 

»Ich wollte auf die Zeit nach der Geburt vorbereitet sein und vorplanen, falls Operationen anstünden.«

 

Stell dir vor, jemand könnte dir deinen Todestag voraussagen. Würdest du ihn wissen wollen?

Nein, ich glaube nicht. Denn entweder würde ich mein Leben nicht so ausleben, wie ich es gerade tue, hätte viele Zweifel. Oder ich würde mich krass verschulden, um ein richtig geiles Leben zu führen, und dann sterbe ich doch nicht. Oh mein Gott, dann müsste ich alles bezahlen. Nee, das geht ja gar nicht. Vielleicht würde ich einen Test machen, wenn in der Familie jemand zum Beispiel Parkinson hätte, um zu testen, ob ich das Gen in mir trage. Aber so weit nur die Theorie, denn das betrifft mich nicht.

Oftmals bekommt man bei solchen Tests, gerade auch für Kinder, das ganze Paket angeboten. Gerade bei familiären Vorbelastungen. Dann wird die Genetik deines Kindes genau unter die Lupe genommen. Würdest du wissen wollen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für eine spätere Krebserkrankung ist?

So genau nicht. Was ich wissen wollte, denn mein Bruder und ich wurden mit Klumpfüßen geboren, ist, ob meine Kinder von diesem Defekt der Füße betroffen sind. Das müsste operiert werden. Ich wollte auf die Zeit nach der Geburt vorbereitet sein und vorplanen, falls Operationen anstünden. Das war das Einzige, was ich während der Schwangerschaften gefragt habe. Ich glaube, die krassen Dinge möchte ich einfach nicht wissen. Am Ende sagt dir einer, dass du zu 45 Prozent Wahrscheinlichkeit an Brustkrebs erkranken wirst. Was fängst du mit dieser Information an? Der Mathelehrer meines Mannes kam ohne viele Formeln in Wahrscheinlichkeitsrechnung aus. Er sagte immer: Entweder es passiert oder nicht. Mit dieser Einstellung gehe ich durchs Leben. Sehr simpel.

Zum Thema Lebenseinstellungen. Ergänze bitte folgenden Satz: Wenn du immer allen gefallen willst …

[Überlegt.] Wenn ich immer allen gefallen möchte, würde ich mich ganz schön verbiegen. Ich wäre nicht authentisch, würde mich verlieren und nicht Julia Lorenzen sein, sondern irgendeine Frau, die gefallen möchte.

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