»Es ist ja schon um zwölf! Soll ich uns erst was zum Mittag kochen oder wollen wir gleich mit dem Interview starten?«, frage ich Sandra Wolschke auf dem Rückweg von der Runde mit Hundedame Ida. Sandra überlegt, ob es wirklich Sinn ergibt, das Unausweichliche weiter hinauszuzögern. »Meine Freundin meinte noch zu mir: Was denn für ein Interview? Du lernst aber auch immer Menschen kennen«, sagt sie kopfschüttelnd und legt dann fest: »Wir bringen das jetzt hinter uns.«
Sandras Zweifel, ob die Zusage wirklich gut und richtig war, sind förmlich spürbar. »Es ist nichts in Stein gemeißelt«, versuche ich ihre angespannten Nerven etwas zu beruhigen und brühe ihr noch einen Kaffee auf. Wir nehmen an meinem Wohnzimmertisch Platz. Ida liegt ruhig auf der Decke neben dem Tisch. Sandra lässt den Blick aus dem Fenster in die Ferne schweifen. Der Raps steht in voller Blüte und bildet einen wundervollen Kontrast zum blauen Himmel.
Die 45-Jährige beginnt zu erzählen und schnell wird klar: Selbstzweifel gehören nicht grundlos zu dieser Frau.
»Ich war immer sehr in mich gekehrt, weil ich gelernt habe, den Mund zu halten.«
Manchmal konfrontiert uns die Lebensweise unserer Eltern mit Scham. Gleichzeitig ist da aber auch Loyalität. Welche dieser Gefühlstüren würdest du eher öffnen, wenn du an deinen Vater denkst?
In erster Linie Scham.
Warum?
Wir sprechen hier über das Thema Alkohol, und es begann bei mir in der Schulzeit. Ich glaube, die Scham war relativ groß, weil jeder, der ein Problem mit Alkohol hat, in eine Schublade gesteckt wird. Schon deshalb habe ich es auch jahrelang gemieden, überhaupt darüber zu reden. Ich war immer sehr in mich gekehrt, weil ich gelernt habe, den Mund zu halten. Nicht, weil ich musste, sondern aus Scham. Der Gedanke war: Du darfst nicht darüber reden, dass sich dein Vater jeden Abend mehrere Flaschen Bier reinzieht. Sobald es zu Hause Ärger gab, wurde natürlich nur laut getuschelt, damit es die Nachbarn nicht mitbekommen. Ich ordnete das Thema so ein, dass darüber nicht geredet wird. Klappe halten.

Gab es mal eine Situation, in der du dich jemandem anvertraut hast?
Es gab eine Situation. Eine Schulfreundin wohnte damals unweit von uns. Ich hatte den Entschluss gefasst, ich gehe nicht mehr nach Hause.
Wie alt warst du?
Vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre. Also es muss Ende der siebten, Anfang der achten Klasse gewesen sein. Ich war zu dieser Zeit oft bei ihr zu Hause. Sie und ihre Eltern kannten das Problem und deshalb hatten sie Verständnis. Die Familie meinte, ich könne da bleiben. Sie riefen auch meine Mutter an und sagten ihr: »Sandra ist hier, mach dir keine Sorgen.« Für mich war es komisch, dass meine Freundin und ich morgens beide die Brotdosen gepackt bekommen haben. Dann gingen wir gemeinsam zur Schule. Nach zwei Tagen musste ich nach Hause, weil ich ein paar Klamotten brauchte. Meine Mutter stand vor mir und hat mich gefragt, was mir einfällt. Ob das der richtige Weg ist. Ich habe sie gefragt, ob sie eigentlich verstanden hat, was ich ihr sagen will. Sie hat mich nur angebrüllt und gesagt: »Wenn du jetzt gehst, dann gehst du für immer.«
Und was hast du gemacht?
Ich bin geblieben. Mein Bruder war ja auch noch da.
Ist er jünger oder älter?
Er ist jünger. Und deswegen bin ich auch geblieben.
Hattest du Angst vor der Ablehnung?
Unbewusst ja. Ich habe inzwischen mit meinen Eltern Frieden geschlossen. Ich glaube, dass beide auf ihre Art und Weise gegeben haben, was sie geben konnten. Meine Mutter hatte es auch nicht einfach. Sie hat nur das gemacht, was sie früher selbst lernte. Ich denke, sie hat auch viel Ablehnung von zu Hause erlebt. Wenn es da Probleme gab, wurde auf ähnliche Weise reagiert. Ich denke, das war ihr nicht bewusst, aber sie hat mich in meinem ganzen Sein immer wieder eingeengt. Ich durfte nie wachsen.
»Ich war nie von mir selber überzeugt.«

Wann hat sich das gezeigt? Hast du ein Beispiel?
Als ich irgendwann gesagt habe, dass ich eine Ausbildung zur Säuglingsschwester – so hieß es früher – machen wollte. Heute sagt man Kinderkrankenschwester. Sie hat damals in einer Firma gearbeitet, die auch Krankenhäuser belieferte, und meinte: »Na ja, ich kann ja mal nachfragen.« Da war sie sehr offen und hat versucht, mir Türen zu öffnen, weil es zu dem damaligen Zeitpunkt nicht so einfach war, überhaupt eine Ausbildungsstelle zu bekommen. Sie hat wirklich alles getan, damit meine Bewerbung dort ankommt. Was auch funktioniert hat. Heute kannst du dich bewerben und wirst ja irgendwie genommen. Damals waren es 1.400 Bewerber und zwanzig haben es in die Ausbildung geschafft.
Und du warst eine von den zwanzig?
Genau. An der Stelle hat sie mich machen lassen. Auch zuvor bei der Suche nach Praktikumsstellen. Ich wollte herausfinden, was meins ist; war zuvor in der Kita und später auch im Krankenhaus. Nicht so einfach, diese Plätze zu bekommen, aber da hat sie mir auch geholfen. Also, wenn sie konnte, hat sie immer unterstützt.
In den Momenten hast du dich auch geborgen und gesehen gefühlt?
Ja. Das hat sie später für meinen Bruder genauso gemacht. Sie wollte schon immer, dass aus ihren Kindern was wird.
Wie erging es dir in der Ausbildung?
Die ersten acht Wochen Theorie waren schon sehr herausfordernd. Ich war gerade siebzehn. Damals war es so, du musstest eine Probehalbjahresprüfung machen. Und da war ich natürlich aufgeregt. Prüfungen waren einfach nicht mein Ding. Ich war nie von mir selber überzeugt. Obwohl ich regelmäßig von den Kollegen positives Feedback bekommen habe. Oder auch konstruktive Kritik, das war ja für mich auch was ganz Neues. Und als es schließlich um diese Probehalbjahresprüfung ging, war mein persönlicher Plan geschmiedet und meiner Mutter verkündet. Wenn ich bestehe, ist mir der Ausbildungsplatz und die nächsten zweieinhalb Jahre das Ausbildungsgehalt sicher. Dann ziehe ich aus.
Und?
Ich bin mit siebzehn ausgezogen. An dem Tag wusste meine Mutter plötzlich von nichts und sagte nur: »Du hast genug von mir.«
Hat sie es verdrängt oder meinst du, sie …
… sie hat es verdrängt und wortwörtlich gesagt: »Du lässt mich allein mit allem. Das werde ich dir nicht verzeihen.«
Was hat das bei dir für ein Gefühl hinterlassen?
In erster Linie: Was bin ich nur für eine schlechte Tochter. Ich stehe nicht zu meiner Familie. Warum auch immer, war es so, dass ich mir gesagt habe: Ich muss auch mein Leben leben.
Mutig.
Und dann bin ich ausgezogen.

»Sie haben mich alle unterstützt, obwohl ich zum Vater meines Sohnes keinen Kontakt hatte. Wir haben einen richtigen Plan aufgestellt.«
Hast du heute Kontakt zu deiner Mama?
Ich habe Kontakt zu meiner Mama. Und ich muss dazu sagen, dass ich irgendwann auch selber Mama geworden bin. Das war alles andere als geplant. Aus heutiger Sicht ist es das Beste, was mir passieren konnte. Ich war mit dem Vater meines Kindes lange zusammen, aber das hat irgendwann alles nicht mehr gepasst. Deshalb war ich alleinerziehend. Am Anfang habe ich darüber auch nicht gesprochen, auch nicht viel auf der Arbeit, dass ich einfach meine Herausforderungen habe. Irgendwann gab es ein Gespräch, weil mir klar wurde, dass ich mir irgendwas einfallen lassen muss. Ich habe alle Omas und Opas an einen Tisch geholt. Und sie haben mich alle unterstützt, obwohl ich zum Vater meines Sohnes keinen Kontakt hatte. Wir haben einen richtigen Plan aufgestellt. Also, wie ich arbeite, welche Dienste, welche Oma hier, welcher Opa da. Meine Eltern waren ja zu dem Zeitpunkt auch schon getrennt. Dennoch hat das wirklich einwandfrei funktioniert.
Wie war das für die Eltern vom Papa? Also, dass der Sohn selbst keinen Kontakt zu seinem Kind hat?
Die haben am Anfang natürlich auch immer versucht zu vermitteln. Sie gaben irgendwann auf, denn sie wollten einfach nur Oma und Opa sein.
Waren sie es in jeder Situation?
Ja. Wir feiern heute noch Weihnachten zusammen. Ich habe damals selber nicht damit gerechnet. Aber für sie war das klar, mich zu unterstützen. Genauso meine Eltern. Sie waren immerzu da. Jeder Einzelne war toll als Oma und Opa. Sie waren da. Ich konnte mich immer darauf verlassen und hatte dadurch weniger Baustellen.
Wie alt war dein Sohn, als ihr euch getrennt habt?
Der ist gerade vier geworden.
»Auf meiner Wunschliste stand eine Schwangerschaft zu der Zeit ganz weit hinten.«
Hattest du irgendwann mal ein schlechtes Bauchgefühl, deinen Sohn zu deinem Vater zu geben oder spielte das Thema Alkohol zu dieser Zeit keine Rolle?
Nein, in dem Falle nicht. Ich bin damals mit siebzehn ausgezogen, unter anderem auch, weil ich das nicht mehr ertragen habe. Später, also 2000, hat er einen Entzug gemacht. Er hat mich aus der Klinik heraus angerufen und gesagt: »Ich bin in der Klinik. Ich mache einen Entzug und würde mich freuen, wenn du mich besuchen kannst.« Es hat eine Weile gedauert, aber ich habe ihn besucht. Er hatte den Weg für sich gefunden und war dann wirklich lange Zeit trocken. Von daher konnte ich mich auch auf ihn verlassen. Inzwischen weiß ich, solange er eine Aufgabe hat oder hatte, war das kein Thema. Er wusste, er hatte einen kleinen Mann, der auf seine Hilfe angewiesen ist, also hat er sich auch gekümmert. Klar habe ich ihm viele Dinge erklären müssen, aber das fand ich nicht schlimm. Er ist, wie er ist.
Jeder hat seinen Erfahrungsschatz.
Genau, er hat auch gesagt, bis wohin er geht. Also was für ihn möglich ist. Und so habe ich das halt angepasst. Er hat getan, was er konnte. Wenn ich Frühdienst hatte, ist er zum Beispiel jeden Morgen um fünf zu mir gekommen, damit Lee-Roy halt nicht um sechs als Erster in der Kita ist. Oder wenn ich Nachtdienst hatte, musste mein Sohn seinen Rucksack nicht packen und zu ihm fahren. Opa kam zu uns.
Warst du stolz auf deinen Vater, dass er dir in dieser Zeit zur Seite stand?
Ja, weil er mir wirklich den Rücken freigehalten hat. Auch schon vor der Geburt. Ich war ja ziemlich verzweifelt und wusste nicht, wie ich das mit Kind auf die Reihe bekommen soll. Als ich erfahren habe, dass ich schwanger bin, war ich mir sicher, noch nicht so weit zu sein. Er hat damals zu mir gesagt: »Sandra, es ist nie der richtige Zeitpunkt.«
»Ich habe schon mehrere kalte Entzüge mit ihm zu Hause als Kind mitgemacht.«
Wie alt warst du, als du schwanger geworden bist?
Ich bin kurz vorher 23 geworden. Auf meiner Wunschliste stand eine Schwangerschaft zu der Zeit ganz weit hinten.
Hat die damalige Unterstützung seinerseits eine Auswirkung darauf, dass du ihm heute auch zur Seite stehst?
Weiß ich nicht. Habe ich auch schon darüber nachgedacht, ob es das ist. Mein Bruder oder auch mein Mann haben mich gefragt, warum ich das mache. Mein Vater erwartet, glaube ich, gar nichts. Momentan baut er ja eher ab.
Das heißt, er hatte wieder einen Rückfall?
Ja. Den letzten in diesem Jahr, als ich von einer Reise zurückkam. Das war Anfang März. Ich habe schon mehrere kalte Entzüge mit ihm zu Hause als Kind mitgemacht. Also, wenn es danach geht, glaube ich, nein. Ich unterstütze ihn nicht, weil er damals auf seinen Enkel aufgepasst hat.
Warum dann? Mit welchem Gefühl verbindest du diese Unterstützung?
Mein Vater ist halt auch ein ganz normaler Mensch, der zum Beispiel immer sehr auf sein Äußeres geachtet hat. Er ist zur Arbeit gegangen. Ich denke, er war oft frustriert, weil er irgendwann nicht mehr so arbeiten konnte, wie er wollte. Er war einfach oft darüber enttäuscht, dass er nicht so gebraucht wurde, wie er es sich wünschte. Und dann kamen diese Phasen, in denen er sich die Enttäuschung und den Frust weggetrunken hat. Sicher hängen da noch viele andere Dinge mit zusammen, über die er nicht sprechen möchte. Worüber er sich jedoch schon bewusst ist. Aber er hat halt auch gelernt, einfach immer anderen Menschen die Schuld zu geben, warum sein Leben so ist, wie es ist. Ich erkenne schon an, dass es schwierig für ihn gewesen sein muss. Er lebte ja zum Beispiel auch damit, dass meine Mutter nie ein Mädchen haben wollte.
Wow, das hat sie zu dir gesagt?
Ja, sie hat immer gesagt: »Ich wollte dich gar nicht.« Das hat mir mein Vater irgendwann auch gesagt. Andererseits hat meine Mutter meinem Bruder jahrelang erzählt, dein Vater wollte dich nie. Das hat mit beiden etwas gemacht. Irgendwann hat mein Vater das Gespräch mit uns gesucht und erklärt, wie das eigentlich alles so zustande gekommen ist. Meine Mutter wollte halt immer einen Sohn, war aber für damalige Verhältnisse bereits spät gebärend, mit mir. Dennoch hat sie es nach mir noch mal probiert. Meinem Vater hat sie aber nichts gesagt. Bis sie mit meinem Bruder schwanger war. Und mein Vater seinerseits hat zugegeben, dass er eigentlich nie Kinder haben wollte, weil er sich dem nicht gewachsen fühlte.
Er wurde vor vollendete Tatsachen gestellt.
Genau. Er hat auch klargestellt, dass er uns deshalb nicht abgelehnt hat oder weniger liebte. Wir waren da und er hat einfach versucht, das Beste daraus zu machen. Dieses offene Gespräch mit mir und später mit meinem Bruder hat uns Klarheit gebracht. Ich habe schlussendlich erkannt, dass meine Eltern einfach überfordert waren.
»Dieses Baby in sich zu tragen, das war ja die eine Sache. Aber jetzt kommt es und ich muss mich kümmern.«
Was hast du für deine eigene Mutterschaft aus dieser Situation mitgenommen?
Zunächst stand die Frage im Raum: Bekomme ich dieses Kind, oder nicht? Ich habe mich dem überhaupt nicht gewachsen gefühlt.
So ähnlich wie dein Vater eigentlich.
Genau. Zu dem Zeitpunkt wusste ich das aber alles noch nicht. Diese Informationen über unsere Vergangenheit kamen alle nach und nach. Und so doof es sich anhört, mittlerweile glaube ich, wir bekommen die Aufgaben im Leben, an denen wir wachsen dürfen. Oder wo das Universum zumindest denkt: Okay, dem ist sie gewachsen. Und ich musste viel lernen. Am meisten Angst hatte ich damals davor, ob ich mein Kind lieben kann?
Oh, wow.
Das war die größte Herausforderung in meinem Kopf. Kann ich ihm die Liebe geben, die er braucht? Kann ich ihm Geborgenheit und ein Zuhause schenken?
»Wir standen in der Wohnung und ich dachte, das ist doch jetzt nicht sein Ernst.«
Wann hat sich die Angst gelöst?
Sagen wir mal so, ich habe ja lange gar nicht gesagt, dass ich schwanger bin. Mein Bauch ist auch nicht gewachsen. Demnach glaube ich an die Theorie, dass wenn man seine Schwangerschaft verdrängt oder wenn man nicht so ganz damit im Reinen ist, es offensichtlich passieren kann, dass man es nicht sieht oder nicht merkt. Krass war, als ich es offiziell ausgesprochen habe, bin ich explodiert.
Wunderbar.

Ich habe mich auch wirklich toll gefühlt als Schwangere. Mein Bauch ist so schön gewachsen, ich konnte nachher eine Kaffeetasse darauf abstellen. Ich erinnere noch, dass es schwer war, eine Beleghebamme zu finden. Und da war es zum Beispiel auch so, dass ich meinen Papa anrief und sagte: »Komm bitte vorbei. Ich möchte, dass du sie kennenlernst.« Er kam und wir saßen da. Wahrscheinlich fand sie das erstmal ein wenig befremdlich, dass der zukünftige Opa dabei war. Aber er hatte einfach schon immer so ein gutes Menschengefühl. Und er sollte auch diesmal Recht behalten. Denn nicht nur ich hatte ein gutes Gefühl ihr gegenüber. Ich habe mich in der Schwangerschaft gut betreut gefühlt. Und es war schon damals der erste Schritt in die Naturheilkunde.
Ah, da hat es angefangen.
Ja, unbewusst. Also, sie hat viel damit gearbeitet. Die Hebamme hat zum Beispiel gesagt: »Du musst anfangen, richtig zu essen.«
Okay, spannend. Da kommen wir nachher gleich nochmal drauf zu sprechen. Du hast dich ein bisschen um die Beantwortung der Frage herum geschlängelt. Hast du eine Idee, wann du zum ersten Mal dieser Angst begegnen konntest, dein Kind nicht lieben zu können?
[schmunzelt] Eigentlich ging es schon mit der Entbindung los. Als die Wehen einsetzten. Die ersten Übungswehen hatte ich Tage zuvor eher verdrängt. Dieses Baby in sich zu tragen, das war ja die eine Sache. Aber jetzt kommt es und ich muss mich kümmern. Es ist auf meine Hilfe angewiesen. Egal, was passiert, ich kann es nicht einfach liegen lassen. Ich muss mich kümmern. Kann ich das? Nach der Entbindung sind wir nach Hause gekommen. Wir standen in der Wohnung und ich dachte, das ist doch jetzt nicht sein Ernst. Die Wohnung war arschkalt.
Oh nein.
In der neuen Wohnung, die wir erst kurz zuvor bezogen hatten, war die Heizung kaputt.
Ach, was für ein Start?
In dem Moment war alles außer meinem Sohn unwichtig. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, wenn ich das jetzt nicht schaffe, wer soll das dann machen? Ich habe ihn in warme Decken eingepackt, weil er so eine kleine Frostbeule war. Er brauchte Wärme. Ich war nur dafür da, ihn zu umsorgen. Da war ich mir sicher, ihn zu lieben.
»Ich sehe jedes kleine Wesen und bin bemüht, etwas dazu beizutragen, damit es für dieses Kind ein bisschen einfacher wird.«
Manche halten nicht nur im Privaten, sondern auch im Job fremdes Leben in ihren Händen und verlieren dabei den Kontakt zum eigenen. Du arbeitest auf einer Frühchenstation. Ich stelle mir das unheimlich herausfordernd vor. Welche Gefühle begegnen dir dort am häufigsten?
Ich glaube, erstmal sind viele in einem Schock, weil die Schwangerschaft zu früh beendet ist. Manche hatten sich gerade daran gewöhnt und dann ist das Kind schon da. Außerdem Angst, Schuldgefühle, der Mütter, die Schwangerschaft nicht gehalten haben zu können. Auch Überforderung. Wenn die Eltern die Situation aber realisieren, sich dem annähern, verstehen, danach kommt Liebe. Nicht bei allen, aber bei vielen.
Das heißt, du bist nicht nur für die Frühchen da, sondern auch für die Eltern.
Ja, mittlerweile ist es schon so. Ich bin auf der Überwachungsstation. Das heißt, die Kinder sind bereits aus dem Gröbsten raus. Die sind angekommen, haben auch schon ihren Tagesablauf. Wir haben auf der Station auch noch eine Elternberatung. Oft greift die schon pränatal, wenn sich bereits ankündigt, dass es eine Frühgeburt wird. Die Eltern werden dann auch manchmal über die verschiedenen Stationen geführt, je nach Schwangerschaftswoche, um ihnen zu zeigen, wie groß die Kinder zum jeweiligen Zeitpunkt sind.

Dass sie quasi fertige Wesen sind, auch wenn noch nicht alles ausgereift ist?
Genau. Manche haben ganz komische Vorstellungen. Unsere Aufgabe besteht auch darin, für eine gute Mutter-Kind-Bindung zu sorgen. Die Frühgeborenen haben einen doch sehr speziellen Start. Grundsätzlich ist jede Geburt eine ungewohnte und neue Situation. Aber ich glaube, wenn dieser natürliche Vorgang unterbrochen wird, ob nun aus gesundheitlichen Gründen oder wie auch immer, ist das herausfordernd für alle. Wir sind in erster Linie für die intensivmedizinische Betreuung der Kinder da und ermutigen die Eltern, ihre Kinder zu wickeln, zu streicheln, anzuziehen, zu baden. Immer mit dem Blick darauf, ob es dem Kind gerade guttut oder eben nicht. Manche machen sehr viel, manche zu wenig. Das ist immer so eine Gratwanderung.
Spielt Mitgefühl durch den engen Kontakt zu den Eltern bei dir eine große Rolle oder grenzt du dich eher ab?
Das kommt auf die Situation an.
Inwiefern?
Na ja, es gibt immer Herausforderungen. Ich mache keine Abstriche bei den Kindern, egal, wie sich die Eltern verhalten. Für mich ist jedes Kind wichtig. Ich sehe jedes kleine Wesen und bin bemüht, etwas dazu beizutragen, damit es für dieses Kind ein bisschen einfacher wird. Da ist es mir egal, ob jetzt Mama oder Papa irgendwie super anstrengend sind. In manchen Situationen muss ich jedoch auch intensiv reinfühlen und mir sagen: »Okay, das darfst du jetzt nicht persönlich nehmen.«
Gab es schon mal eine Situation, in der du überfordert warst, mit Eltern?
Ja, mehrere, zum Beispiel, wenn sie verbal sehr ausfallend werden.
Wie schützt du dich vor der Wut und Hilflosigkeit der Eltern? Stichwort: Abgrenzung.
Ich versuche in der Situation erstmal ruhig und vor allem sachlich zu bleiben. Dennoch gibt es Situationen, in denen ich an Grenzen stoße. Dann habe ich ein wirkliche gutes Team, in dem wir uns unterstützen.
»Ich habe mich so in dieses Thema vertieft, dass ich beschlossen habe, die Ausbildung zu machen, obwohl ich schon zu Beginn Zweifel hatte, die Prüfung zu bestehen.«

Trotz dessen schlägst du gerade beruflich einen anderen Weg ein. Im Wesentlichen geht es um Darmgesundheit. Warum?
Na ja, das Interesse an Darmgesundheit ist der Tatsache geschuldet – und jetzt muss ich einen kleinen Bogen in die Vergangenheit schlagen – dass ich aufgrund verschiedener Umstände in meinem Leben selbst meine Herausforderungen damit hatte.
Welche Umstände oder Herausforderungen meinst du?
Bevor ich mit Lee-Roy schwanger geworden bin, litt ich an einer Essstörung. Also, ich habe nichts mehr gegessen. Ich habe meinem Kind so ein bisschen mein Leben zu verdanken, weil ich wusste, was es für große Auswirkungen auf mein Ungeborenes haben kann, wenn ich mich nicht gut versorge. Und somit habe ich angefangen, vernünftig zu essen.
Dann kam die Schwangerschaft doch genau zur richtigen Zeit.
Ja, dabei habe ich das Kochen damals völlig abgelehnt. Dennoch hatte ich voll den Suppenflash in der Schwangerschaft. Ich aß total gerne Suppen, übrigens noch heute, aber ich konnte keine kochen. Also habe ich mir Dosen gekauft. Meine Hebamme hat das mitbekommen und gesagt: »Das ist der größte Scheiß. Lass das! Ernähre dich gut.« Damals wusste ich nicht, was sie will. Immerhin aß ich doch.
Aber was?
Ja, genau. Meine Mutter hat angefangen, frisch zu kochen. Eintöpfe. Da habe ich mich reingelegt. Sie wusste, ich bin schwanger und brauche etwas Gutes zu essen. Sie hat sich richtig ins Zeug gelegt, denn sie freute sich sehr auf ihr Enkelkind.
Wie schön. War deine Hebamme damit zufrieden?
Ja, sie hat es immer wieder gepredigt. Du musst dich gut versorgen. Du musst auf ausreichend Schlaf achten. Bewegung ist wichtig. Als ich Wassereinlagerungen hatte, arbeitete sie mit Akupunktur. Sie hat mir auch so Kügelchen gegeben. Hier bin ich erstmals mit Homöopathie in Berührung gekommen. Auch in der Wochenbettbetreuung hat sie damit gearbeitet. Ich durfte dadurch auch vieles kennenlernen, was ich einfach weitergeführt habe, weil es mir guttat. Später habe ich angefangen zu lesen, wie ich mein Kind bei Krankheiten natürlich unterstützen kann, Wadenwickel und so weiter. Aber ich denke, das machen doch viele Mütter. Jahre später bin ich bei meiner eigenen Heilpraktikerin gelandet, denn ich hatte mit Colitis Ulcerosa zu kämpfen.
Colitis ulce … was bitte?
Das ist eine chronisch entzündliche Darmerkrankung, die den Dickdarm betrifft. Sie verläuft in Schüben, was bedeutet, dass es Phasen mit starken Symptomen gibt, gefolgt von Zeiten, in denen die Symptome weniger oder gar nicht spürbar sind. Während eines Schubs leiden Betroffene unter Bauchschmerzen, Durchfall und manchmal Blut im Stuhl. Diese Erkrankung erfordert oft eine langfristige Behandlung, um die Beschwerden zu lindern und die Schübe zu kontrollieren. Ich bin mittlerweile seit fast zehn Jahren schubfrei [klopft auf Holz].
Wie hast du das geschafft?
Mir war zu dem Zeitpunkt nicht bewusst, was da alles hinter steckt. Dass der Lebensstil, die Ernährung, alles irgendwie eine Rolle spielt und es eben nicht nur mit dem von der damaligen Hausärztin verschriebenen hoch dosierten Kortison und Antibiotika besser wird. Da gehört einfach viel mehr dazu. Als die Fachärzte irgendwann zu mir gesagt haben, dass sie nichts mehr für mich tun können, war mir klar, ich muss es jetzt irgendwie mal selber in die Hand nehmen. Dadurch kam eins zum anderen. Ich habe mich so in dieses Thema vertieft, dass ich beschloss, eine Ausbildung zu machen, obwohl ich schon zu Beginn Zweifel hatte, die Prüfung zu bestehen.
»Ich habe mich anfangs nicht getraut, über eine Beratung hinauszugehen, obwohl ich die Erlaubnis zur Heilpraktikerin bereits hatte.«

Was war das für eine Ausbildung?
Zur Heilpraktikerin.
Und wie lief es mit der Prüfung?
Ich habe mir damals bewusst eine Schule gesucht, die zu unterschiedlichen Zeiten Präsenzkurse angeboten hat, da ich Flexibilität brauchte. Ich wollte mir keinen Druck machen und hatte für mich mit zweieinhalb Jahren Ausbildungszeit gerechnet, denn ich war alleinerziehend und arbeitstätig. Tatsächlich war ich aber schon nach einem Jahr mit den Vorlesungen fertig.
Wow.
Plötzlich wurde ich angefragt, wie es mit der Prüfung im März aussieht. Und ich dachte: Ach, scheiße. Ja, warum nicht, und ich habe meine Prüfungsvorbereitung gemacht. Kurz vor der Prüfung wurden die Zweifel wieder extrem laut. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ob das etwas wird? Die Durchfallquote war einfach relativ hoch. Gerade in Potsdam bei der damaligen Amtsärztin. Im Nachgang wusste ich, die Schule, an der ich das gemacht habe, hat echt super Prüfungsvorbereitungen geleistet. Ich konnte immer nachfragen, wenn ich irgendwas nicht verstanden hatte. Und so habe ich die schriftliche Prüfung bestanden.
Zweifel umsonst?
Ja. Ich dachte, das kann doch jetzt nicht wahr sein. Ich habe bestanden. Was ja nicht heißt, dass man die Mündliche auch besteht.
Zack: neue Zweifel?
Als der Brief mit dem Prüfungstermin ankam und ich realisierte, dass sie bei dieser Amtsärztin stattfindet … ich war so aufgeregt. Damals ist eine Freundin von mir mitgekommen. Sie hat mich sehr ermutigt und immer wieder gesagt: »Du schaffst das.« Wir mussten so lange warten. Es wurde gruppenweise geprüft. Immer vier Leute. In der Gruppe vor uns sind drei durchgefallen. Da hatte ich so Schiss. Und trotzdem musste ich da rein.
Nochmal die Selbstzweifel befeuert.
Ja, aber ich diese Prüfung bestanden. Mein Thema war unter anderem Ernährung einer Schwangeren.
»Ich darf anderen Menschen Unterstützung geben.«
Passte doch.
Die prüfende Amtsärztin hat sehr viel Schauspielkunst bewiesen, um ein weiteres Prüfungsthema zu inszenieren. Ich durfte das Hormon- und Nervensystem erklären. Ein Thema, das ich auf keinen Fall haben wollte. Und dennoch war es auch einer der Auslöser, dass ich mich heute nicht nur der Darmgesundheit, sondern jetzt auch der Frauengesundheit widme. Es ist nicht einfach, die Hormone zu verstehen, aber sie haben halt einen großen Einfluss auf unser Wohlbefinden. Darm und Hormone gehören irgendwie zusammen. Auch wenn ich gerade das Thema Darmgesundheit aufgrund meiner eigenen Geschichte eher nachempfinden kann. Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn man nicht gut versorgt ist und alles tut, aber trotzdem irgendwie merkt, es wird nicht besser. Wenn der Darm zum Beispiel Löcher hat und die guten Nährstoffe einfach nicht mehr aufnimmt. Da kannst du die teuersten Sachen in dich reinkippen. Wenn sie nicht aufgenommen werden, fühlst du dich nicht gut. Du hast keine Energie.
Welche Gefühlstür müsste ich öffnen, um deine Erlaubnis zur Heilpraktikerin gerahmt anzuschauen?
Bis vor einem Jahr war sie versteckt.

Wo hast du es jetzt aufgehängt?
Hmmm. Bei Freude. Freude und Zufriedenheit, weil ich sehe, dass ganz viel möglich ist. Es ist eine Erlaubnis. Ich darf anderen Menschen Unterstützung geben. Ich darf auch therapieren. Als Coach kann ich das nicht, da darf ich nur beraten. Ich habe mich anfangs nicht getraut, über eine Beratung hinauszugehen, obwohl ich die Erlaubnis zur Heilpraktikerin bereits hatte. Inzwischen habe ich verstanden, dass ich es darf. Ich bin so dankbar dafür, andere mit auf diese Reise zu nehmen. Ihnen andere, neue Wege zu zeigen. Ich kenne gleichzeitig aber auch meine Grenzen.
Was wünschst du dir für deine Patienten?
Ich freue mich, wenn ich Bewertungen lese, weil ich jemandem helfen konnte. Ich möchte nicht, dass meine Patienten dauerhaft bei mir in Behandlung sind. Sondern sie dürfen für eine gewisse Zeit meine Unterstützung in Anspruch nehmen. Ich möchte sie mit dem Gefühl entlassen, dass sie, wenn Probleme wieder kommen, wissen, was sie zu tun haben. Klar können sie mich jederzeit gerne wieder anrufen. Dennoch geht es darum, ihnen Umwege zu ersparen. Ich bin selbst viele Umwege gegangen.
Gab es ein weiteres entscheidendes Learning?
Mir war es wirklich unangenehm, für meine Beratung oder Behandlung Geld zu nehmen. Ein Freund hat zu mir gesagt, das ist ein Energieausgleich und völlig in Ordnung. Ein Arzt kriegt auch seinen Energieausgleich, warum sollst du den nicht nehmen?
Hat das geholfen?
Mittlerweile habe ich keine Probleme mehr damit, weil ich weiß, was ich für Fortbildungen und Weiterbildungen bezahlt habe. Ich habe wirklich viele Zertifikate gesammelt. Viel Wissen angehäuft, das ich weitergeben kann und das in meine Arbeit einfließt. Ich bin sehr dankbar, dass ich bestimmte Menschen kennenlernen durfte, die heute zum Teil nicht mehr praktizieren, weil sie aus Altersgründen oder aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben haben. Aber ich durfte all das noch lernen. Im vergangenen Jahr habe ich mir eine kleine Auszeit genommen, da ist mir das alles sehr bewusst geworden. Ich habe mir die Frage gestellt. Will ich das wirklich? Will ich diesen Weg gehen?
Und?
Ich will.
»Das würde ich meinem jüngeren Ich sofort mitgeben: Du bist gut, so wie du bist. Diese Selbstzweifel zu vermeiden.«
Sandra, deine Augen strahlen. Ich glaube, du kannst mal eine ganze Ecke stolz auf das sein, was du erreicht hast. Es ist an der Zeit, dir mal ordentlich auf die Schulter zu klopfen.
Ja, darin übe ich mich.

Zum Schluss ein kleines gedankliches Experiment. Nimm mal dein jüngeres Ich an die Hand. Ihr steht gemeinsam in dem langen Gang zur Galerie deines Lebens. Von dem Gang aus gehen unzählige Türen ab. Jede steht für ein Gefühl. Du hast jetzt die Chance, deinem jüngeren Ich den zukunftsweisenden Blick in die Galerie eines Gefühls zu gewähren. Welches Gefühl wäre es und auf welches Ereignis würdest du die junge Version deiner Selbst vorbereiten?
[Schließt die Augen und überlegt lächelnd] Lebensfreude. Einfach dieses Gefühl der Leichtigkeit und Lebensfreude. Ich habe immer in allem etwas Positives gesehen. Ich habe auch stets die Hoffnung gehabt, dass es gut wird. Und deswegen ärgere ich mich heutzutage, dass ich nicht einfach manchmal mehr Spaß hatte. Deswegen diese Lebensfreude, diese Energie, die darf einfach viel, viel, viel mehr fließen. Die jüngere Sandra darf von vornherein mehr genießen. Nicht alles so verbissen sehen. Damals konnte ich es nicht anders. Habe es so auch vorgelebt bekommen. Immer alles mit Druck. Es musste immer alles perfekt sein. Leistung war immer wichtig. Ich bin eine Frau, die viele Dinge schnell durchzieht. Aber es ist ja nicht schlimm, wenn ich ein halbes Jahr länger brauche. Dafür aber noch ein bisschen genieße.
Du lernst also noch dazu?
Ja. Ich lerne, manche Dinge einfach nicht so ernst zu nehmen. Das würde ich meinem jüngeren Ich sofort mitgeben: Du bist gut, so wie du bist. Diese Selbstzweifel zu vermeiden. Und damit ein gutes Vorbild für meinen Sohn zu sein und dessen Selbstbewusstsein und Selbstwert immer positiv zu bestärken.