»Die Aussicht auf ein Leben in Achtsamkeit ist jede Anstrengung wert.«

»Nehmt nun die Rosine in den Mund«, fordert uns der Coach auf. »Erkundet deren Oberfläche. Schmeckt die Süße. Wie schnell breitet sie sich aus? Noch nicht drauf beißen -« Mist, erwischt!, denke ich und muss grinsen. Der anderen Teilnehmerin Mareen scheint es ähnlich zu gehen. Wir lächeln uns über den Bildschirm an.

 

In meiner Depression kam mir der Mindfulness-Based Stress Reduction bei Lutz Sonius [MBSR-Kurs] gerade recht. Auch Mareen schien eine intensive Phase der Veränderung durchzumachen. Glücklicherweise waren wir die einzigen Teilnehmerinnen des Achtsamkeitskurses, auch wenn Lutz sich das sicher anders gewünscht hätte. Der Austausch über die Herausforderungen des Alltags und Lebens im Großen und Ganzen war ein heilsamer Schritt für mich. Darüber hinaus fand ich in Mareen eine Verbündete in Sachen Achtsamkeit und Reflexion. Unsere Wege kreuzten sich immer wieder. Seit der Idee, meinen Blog »Die Galerie deines Lebens« endlich mit Menschen und Geschichten zu füllen, ist es mein Wunsch, ein Interview mit ihr zu führen. Nervös saß ich an einem Tag im Januar 2025 vor meinem Laptop, griff nach dem bereits kalten Tee und öffnete Zoom. Ja, unsere Vieraugengespräche gingen immer tief, aber diesmal hatte es beinahe offiziellen Charakter. Als Mareen den Chatraum betrat und ebenfalls deutlich angespannt war, mussten wir beide lachen. »Kein Grund für Aufregung«, sagte ich. »Einfach unterhalten wie immer?«, fragte Mareen und schon kamen wir ins Gespräch.

 

»Glück ist nicht nur eine Entscheidung!«

 

Mareen, ist Achtsamkeit ein oberflächlicher Trend, der uns suggeriert, dass wir uns einfach nur ›mehr Mühe geben‹ müssen, um glücklich zu sein?

Achtsamkeit begegnet uns mittlerweile häufig, und dieser aktuelle Trend birgt die Gefahr, dass wir sie missverstehen. Eine bedeutende Qualität der Achtsamkeit ist eher die Annahme dessen, was jetzt gerade ist – unabhängig davon, ob dieser Moment angenehm oder unangenehm ist. Eher das Gegenteil von Streben nach Glück und sich Mühe geben.

Wie interpretierst du Achtsamkeit?

Wenn wir Achtsamkeit praktizieren, können wir erkennen, dass wir unsere Aufmerksamkeit lenken können, absichtsvoll von einem Moment zum nächsten. Wir können erkennen, dass unsere Tendenz, die Dinge zu bewerten, einen Einfluss auf unser Erleben hat. Es gibt zum Teil fragwürdige Versprechungen, insbesondere in den sozialen Medien. Wenn ich Aussagen lese, dass Glück nur eine Entscheidung ist, dann finde ich das schwierig. Sicher weiß ich, was aus psychologischer Sicht damit gemeint ist. Für Menschen, die in einer Krise stecken, vielleicht von Angst, Trauer oder Depressionen begleitet sind, können solche Aussagen wie ein Schlag ins Gesicht sein. Glück ist nicht nur eine Entscheidung! Achtsamkeit heilt nicht einfach mal so Erkrankungen und löst nicht all unsere Probleme. Achtsamkeit kann uns helfen, präsent zu sein.

Was gibst du Klienten mit, die sich unverstanden fühlen und damit zu dir kommen?

Es ist wichtig, über die Erwartungen zu sprechen und ehrlich zu sein. Achtsamkeit kann sehr viel bewirken. Ich gehe so weit zu sagen, dass wir Achtsamkeit unbedingt in dieser Welt brauchen. Ich glaube, dass wir Menschen die Fähigkeit der Achtsamkeit in uns haben. In unserer Leistungsgesellschaft verlernen wir es manchmal. Es ist bedeutend, damit wieder in Kontakt zu kommen. Es geht nicht darum, teflonbeschichtet durch die Welt zu gehen, und alles perlt an uns ab. Ganz im Gegenteil. Es geht darum, mit uns und dem Leben in Kontakt zu sein. Uns unseren Gefühlen bewusst zu sein.

Was wir häufig tun, ist, im Autopiloten durchs Leben zu hetzen. Wir sind nicht bei uns. In der Achtsamkeit geht es darum, mit den Dingen zu sein, wie sie jetzt gerade sind. Und es geht darum zu lernen, das Schwierige nicht ›wegzumachen‹, sondern genau damit zu sein. Wir können auch mit dem Schwierigen sein.

 

 

© Maria Hackethal

Mareen Weden

Nach ihrem Abitur 2002 in Greifswald zog es Mareen Weden nach Hamburg zum Studium des »Modedesign und der Modeillustration«. Sie arbeitete in München und Berlin. Nach einigen Jahren hängte sie ihr eigenes Label an den Nagel und studierte »Angewandte Psychologie« (B.Sc.) in Bremen.

Mareen absolvierte zudem eine Ausbildung zur Lehrerin für »Mindfulness-Based Stress Reduction« nach Prof. Jon Kabat-Zinn am Achtsamkeitszentrum in Berlin und schloss 2023 das Psychologie-Masterstudium mit dem Schwerpunkt »Klinische Psychologie und psychologische Beratung« (M.Sc.) in Hamburg sowie den Heilpraktiker für Psychotherapie nach dem Heilpraktikergesetz ab. Mit ihren Ausbildungen im »Yin Yoga« und »Progressiver Muskelentspannung« erweiterte Mareen ihr Angebot im Bereich der traumsensitiven Arbeit, Breathwork, Embodiment und der Trauma- und Entspannungstherapie.

2024 absolvierte sie die Ausbildung in »Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie der Depression« und gibt Kurse in verschiedenen achtsamkeitsbasierten Verfahren.

Mareen lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern am Saaler Bodden in Ribnitz-Damgarten am Darß.

 

 

 

»Eine Jacke zu verkaufen ist schön, um Geld dafür zu bekommen. Aber mir fehlte irgendwann diese Sinnhaftigkeit bei dem, was ich tat.«

 

Mareen, du hast deinen beruflichen Werdegang nach dem Abitur als Modedesignerin begonnen und bist erst später zur Psychologie und Achtsamkeit gekommen. Was hat dich zu diesem Wechsel bewogen?

Nach dem Abitur wollte ich unbedingt etwas mit Kunst machen. Ich nahm meine bisherigen ›Werke‹ und saß bei einem Kunstprofessor in Greifswald am Küchentisch, um gemeinsam nach einem Tee festzustellen, dass Bildende Kunst nichts für mich ist. Er riet mir, mehr in die Design-Richtung zu gehen. Es ist Modedesign geworden. Heute denke ich, dass ich da eher reingerutscht bin, weil ich gemacht habe, wozu ich Lust hatte. Die Realität war dann nicht das, was mich erfüllt hat. Eine Jacke zu verkaufen ist schön, um Geld dafür zu bekommen. Aber mir fehlte irgendwann die Sinnhaftigkeit bei dem, was ich tat. Sicher kann man sie in der Mode finden, aber für mich war es das einfach nicht. Aus der Krise, in der ich steckte, ergab sich die Frage: Was will ich eigentlich machen?

Und?

Psychologie hat mich schon immer interessiert. Ich wagte den Schritt und studierte erneut. Während des Studiums bin ich durch Studien mit Achtsamkeit in Kontakt gekommen. Ich wollte es ausprobieren. Nach dem gemeinsamen MBSR-Kurs mit dir und Lutz bin ich nicht mehr davon weggekommen. Das hat mich überzeugt. Es hat so viel bei mir selbst verändert. Ich bin in gewisser Hinsicht bei mir selbst angekommen. Und das heißt nicht, dass ich keinen Stress mehr habe. Das heißt auch nicht, dass ich alles easy nehme. Ganz im Gegenteil. Aber ich habe das Gefühl, ich lebe so, wie ich das möchte, und nicht mehr wie automatisch gesteuert.

Du hast also am eigenen Leib erfahren, was Achtsamkeit bewirken oder verändern kann. 

Absolut. Besonders spannend ist, dass ich in meiner Arbeit nun beides zusammenbringe. Die Kombination aus der Theorie des Psychologiestudiums und die erfahrungsbasierte Achtsamkeitspraxis vermittelt ein tiefes Verständnis. Das macht meine Arbeit aus. Hier ist mein Herz hängen geblieben.

Lass uns mal auf den Wechsel vom Modedesign zur Psychologie zurückkommen. Wie hast du deine eigenen Gefühle in dieser Übergangsphase wahrgenommen und verarbeitet?

Puh … das ist eine hervorragende Frage. Darüber muss ich etwas nachdenken.

 

»Yoga, ohne bewusst bei sich zu sein, ist auch nur Gymnastik!«

 

© Privat

Als Achtsamkeitslehrende betonst du die Bedeutung des bewussten Erlebens des gegenwärtigen Moments. Hast du Momente, in denen du feststellst, wie besonders achtsam du bist?

Vor allen Dingen habe ich oft Momente, in denen ich merke, dass ich nicht achtsam bin. Aber ja, es gibt die achtsamen Momente. Aus denen schöpfe ich Kraft. Es ist gar nicht so leicht, achtsam im Moment zu sein. In den Kursen trainieren wir genau das. Wir üben durch formelle Achtsamkeit, unsere Aufmerksamkeit zu lenken, z. B. zum Körper oder zum Atem. Yoga, ohne bewusst bei sich zu sein, ist auch nur Gymnastik. Es gibt so viele Techniken, mit denen wir trainieren, uns immer wieder in den Moment zurückzuholen.

Wie integrierst du Achtsamkeit noch in deinen Alltag?

Neben der formellen Achtsamkeit praktiziere ich sehr gerne die informelle Achtsamkeit. Wenn ich morgens aus dem Haus gehe, halte ich einen Moment inne, nehme einen tiefen Atemzug – spüre den Tag, spüre den Moment. Wie geht es mir gerade? Wie bin ich jetzt? Nicht, was will ich heute noch machen, sondern wie ist der Moment jetzt? Vielleicht war der Morgen chaotisch. Dann merke ich, ah ja, da ist noch Anspannung. Aber da ist vielleicht auch Vorfreude. Vielleicht ein Zwitschern, ein Luftzug auf der Haut. Und dann ist er da, der Moment.

 

»Manchmal haben wir gute Gründe, Gefühle eben nicht fühlen zu wollen.«

 

Viele Menschen haben Schwierigkeiten, negative Emotionen zuzulassen oder anzunehmen. Warum fällt es uns oft so schwer, uns mit unangenehmen Gefühlen auseinanderzusetzen?

Das ist ein Riesenthema und vielleicht sollten wir den Unterschied zwischen Emotionen und Gefühlen erklären.

Unbedingt!

Diese Begriffe werden gerne synonym verwendet. Emotion bedeutet so viel, wie sich herausbewegen. Aufwühlen. Emotionen sind automatische und meist unbewusste Reaktionen des Körpers auf eine bestimmte Situation. Zum Beispiel steigt der Herzschlag. Ich fange an zu schwitzen, habe ein enges Gefühl in der Brust oder einen Kloß im Hals. Mir wird heiß oder kalt. Das sind Emotionen – körperliche Reaktionen. Sie treten rasant und reflexartig, sind universell. Sie helfen uns zum Beispiel, Gefahren zu erkennen. Gefühle sind die bewusste Wahrnehmung der Emotionen. Sie entstehen, wenn wir eine Situation kognitiv einordnen und interpretieren. Gefühle sind subjektiv und sehr individuell, weil unsere Wahrnehmung bis zu 90 % von unserer Erfahrung, Prägung und unseren Überzeugungen beeinflusst wird. Gefühle machen es möglich, unsere Emotionen zu verstehen.

Wie zeigt sich das konkret?

Stell dir vor, ein Hund läuft auf zwei unterschiedliche Personen zu. Die eine Person wird sich vielleicht freuen und den Hund streicheln. Eine andere kann erschrecken und Angst haben. Das hat damit zu tun, welche Erfahrungen wir im Leben mit Hunden gemacht haben. Oder auch wie wir z. B. durch unsere Eltern geprägt wurden.

Kurzum: Emotion ist ein körperlicher Auslöser und das Gefühl eine bewusstere Einordnung dieses Prozesses?

Ja, genau. Und dieser Prozess läuft häufig automatisiert ab. Wir nennen das den Autopiloten. Wir bemerken oft gar nicht, wie wir die Dinge, Menschen oder Situationen bewerten.

Eine winzige Zeitspanne zwischen Emotion und Reaktion, die ich irgendwie greifen muss.

Das ist Achtsamkeit. Erstmal durchatmen. Mit uns in Kontakt kommen. In das sogenannte Toleranzfenster kommen und dann bewusst reagieren. Ein Beispiel:

Nach einem langen Arbeitstag komme ich nach Hause. Vielleicht war es ein anstrengender Arbeitstag und Stau auf dem Heimweg. Einkaufen musste ich auch noch. Ich öffne zu Hause die Tür und sehe, die Kinder haben alles im Flur liegen lassen und in der Küche häuft sich das Geschirr. Vielleicht steigt Wut auf und ich reagiere ungehalten, werde laut. Wenn ich aber innehalte, dann nehme ich wahr, wie erschöpft ich bin. Vielleicht ist da Hilflosigkeit. Überforderung oder Traurigkeit. Vielleicht bemerke ich, dass ich schon mit viel Anspannung hier angekommen bin. Ich werde trotzdem die Kinder anhalten, ihre Sachen wegzuräumen, aber vielleicht tue ich das auf eine andere Art und Weise und bin damit zufriedener.

© Maria Hackethal

Dein Beispiel zeigt, wie wichtig die Arbeit an uns für unsere Kinder ist. Dann kommt die Mutter eben nicht mehr gestresst nach Hause, brüllt herum und ich verstehe als Kind gar nicht warum. Mein Tag war nämlich gut. Und eigentlich lässt sie nicht nur ihren Frust über meine liegengelassenen Sachen an mir ab, sondern die Frustration ihres ganzen Tages. Stichwort: Vorbildfunktion!

Wenn wir Achtsamkeit trainieren, werden wir uns dessen gewahr. Erst dann bemerken wir wirklich, welche Wucht da manchmal in uns steckt. Das bemerke ich aber nur, wenn ich fühle, was gerade mit mir los ist. Das verändert unser Erleben und ist ein großes Geschenk an unsere Kinder.

Siehst du die Gefahr, dass Gleichgültigkeit entsteht? Nach dem Motto: Was interessiert mich das Geschirr …

Akzeptanz und Gewahrsein haben nichts mit Gleichgültigkeit zu tun. Es geht nicht darum, dass uns plötzlich alles egal ist. Oder dass wir nicht mehr gestresst oder wütend sind. Aber es macht einen Unterschied, sich seiner Stimmung, Gefühle und Gedanken bewusst zu sein. Sehr wahrscheinlich begegne ich den Kindern dann eher mit Aussagen wie: In mir ist gerade so viel Erschöpfung vom Tag. Es macht mich wütend eure Sachen hier herumliegen zu sehen. Räumt sie bitte weg. Manchmal sind wir über die Reaktion der Kinder erstaunt. Wenn sie fragen: Möchtest Du mal in mein Kissen schlagen? Oder laut schreien? Plötzlich tun sich neue Wege auf.

 

»Manchmal reicht es schon, den schwierigen Gefühlen zuzugestehen, dass sie da sein dürfen.«

 

Lass uns darauf zurückkommen, warum es vielen Menschen oft schwerfällt, sich mit unangenehmen Gefühlen auseinanderzusetzen?

Manchmal haben wir gute Gründe, Gefühle eben nicht fühlen zu wollen. Stichwort: Traumatisierung. Dann unvorbereitet z. B. eine Meditation zu hören oder sich durch andere Methoden mit diesem Gefühl zu verbinden, kann auch wirklich ein großes Fass aufmachen, das uns an Grenzen bringt. Unser Körper und das Nervensystem wollen uns eigentlich nur schützen, indem gewisse Gefühle, ich sage es mal umgangssprachlich, automatisch weggedrückt werden. Oft fehlen uns die Tools, damit umzugehen. Was machen wir dann, wenn da auf einmal eine große Traurigkeit ist?

Und vor allem: Wie haben wir gelernt, damit umzugehen?

Lass uns auf kleine Kinder schauen. Wenn sie hinfallen, was machen wir häufig automatisch? Wir pusten vielleicht und sagen: Ach, ist doch nicht so schlimm. Ein Indianer kennt keinen Schmerz! Wie gehen unsere Vorbilder mit schwierigen Gefühlen um? Wer weint vor uns? Viele drehen sich weg oder entschuldigen sich sogar. Schwierige Gefühle haben häufig nicht den Platz, den sie bräuchten. Und ich behaupte, sie brauchen manchmal gar nicht viel Raum. Gerade bei Kindern. Ich glaube, es reicht schon, sich hinzuhocken und zu sagen: Ich sehe, dass du gerade Angst hast. Oder: Du bist richtig traurig! Oder: Du hast sicher einen großen Schreck bekommen. Und dann kann man auch gerne sagen, dass es auch gleich wieder vergeht. Manchmal reicht es schon, den schwierigen Gefühlen zuzugestehen, dass sie da sein dürfen.

Wie erklärst du deinen Klienten diese Notwendigkeit?

In meiner Beratung nehme ich gerne ein Bild als Vorstellung zu Hilfe. Stell dir vor, du bist am Strand und stehst im hüfthohen Wasser. Du drückst einen luftgefüllten Ball unter die Wasseroberfläche. Der Ball ist vergleichbar mit einem Gefühl, das wir nicht haben wollen. Wir drücken ihn unter Wasser. Wollen ihn nicht sehen. Stell dir bildlich vor, wie du da stehst und den Ball ständig unter Wasser drückst. Schau dir deine Schultern an. Du bist hoch angespannt. Entwickelst Verspannungen, Schmerzen. Du kannst dich schwer auf etwas anderes konzentrieren. Es erfordert deine ganze Kraft. Irgendwann bist du erschöpft.

Was passiert, wenn wir den Ball nicht mehr halten können oder wollen?

Der Ball kommt hoch. Das ist unangenehm. Aber an der Oberfläche hat er nun die Chance, vielleicht mit der nächsten Welle ein Stück von dir wegzuschwimmen. Vielleicht kommt er auch wieder näher. Vielleicht kann er irgendwann vom Wind weggetragen werden. Ich glaube, wir dürfen uns auch den schwierigen Gefühlen öffnen, da sind sie sowieso. Aber in einer Leistungsgesellschaft, die erfordert, dass man immer funktioniert, machen wir das selten. Vielleicht darf es einfach normal sein, zuzugeben, dass ich gerade Überforderung oder Hilflosigkeit verspüre und damit nicht weniger wert bin als andere. Das ist okay!

 

»Dass das Schwierige einfach da sein darf, ist das große Geschenk, was wir anderen Menschen machen können.«

 

Dennoch ist das für viele Menschen ein großes Problem.

Denken wir. Und es ist verständlich und menschlich. Es ist nicht angenehm, mit schwierigen Gefühlen zu sein und doch so wichtig. Manchmal sind wir überrascht, dass es anderen Menschen ähnlich geht. Der Ball kommt irgendwann hoch. Dauerhafter Stress macht krank. Das kann dann auch Bluthochdruck, Burn-out oder Krise, aber auch Depression oder Angststörung heißen.

Irgendwie scheint es leichter zu sein, negative Gefühle nach außen zu tragen, wenn es andere Menschen gibt, die sich öffnen. Eine Art Domino-Effekt.

Absolut. Das ist einer der wichtigsten Punkte, zu wissen, wir sind damit nicht allein. Eine häufige Annahme, die mir immer wieder begegnet, ist, dass die Leute denken, alle kriegen es hin, nur ich nicht. Jeder sollte verstehen, dass es menschlich ist, sich auch schlecht zu fühlen. Es ist okay. Das haben wir alle. Wir sollten uns angewöhnen, auf die Frage: Wie geht es dir? nicht automatisiert mit: Gut! sondern ehrlich zu antworten. Mir geht es heute schlecht. Und anstatt: Ach, kenn ich auch. Hatte ich auch schon mal. Oder: Wird schon wieder. Trink mal einen! könnten wir sagen: Möchtest du erzählen? Ich höre dir zu. Dass das Schwierige einfach da sein darf, ist das große Geschenk, das wir anderen Menschen machen können.

Weil du das gerade so beiläufig erwähnt hast: Trink mal einen! Welche Verdrängungsmechanismen begegnen dir häufig in deiner Arbeit?

Natürlich, Alkohol ist ein Thema. Wir alle gehen mit Stress anders um. Dann ist es immer eine Herausforderung, wenn wir in die Ruhe kommen. Wir sagen, wenn es im Außen still wird, wird es im Innen laut. Denn gerade dann kommt hoch, was schwierig ist. Da kann es schon sein, dass wir abends nach Hause kommen und von der ganzen Anspannung des Tages das Bedürfnis nach einem Glas Wein oder Bier haben. Zum Runterkommen, Entspannen, Abschalten.

Ein weiterer Punkt sind Medien. Immer wieder sagen mir Menschen in der Beratung, dass sie erschöpft und ausgelaugt sind. Da ist Zeit. Aber wie fülle ich sie? Wir liegen auf dem Sofa, eine Netflix-Serie läuft und parallel schauen wir, was es auf Instagram Neues gibt. Beantworten Nachrichten. Checken den Status der Kontakte. Vermeintliche Entspannung. Sich Berieseln lassen. Automatisiert. Reiz überflutet. Unser Hirn muss aber jede einzelne Information verarbeiten. In diesem Moment leistet es Höchstarbeit. Wir erschöpfen, ohne es zu bemerken. Erschwerend kommt hinzu, dass wir uns vergleichen. Wir sehen, wie die anderen leben und scheinbar alles mühelos gut hinkriegen. Und wir selbst?

Bei wie vielen Menschen bleiben die gezeigten Erfolge als einfach und leicht zu erreichen hängen.

Das kann dann ganz schön frustrierend sein. Wir verbringen zum Teil Stunden damit, auf dem Smartphone zu scrollen und fühlen uns danach irgendwie schlechter als vorher. Es erfordert Anstrengung, achtsam zu sein, weil wir es nicht gewohnt sind. Auch Perfektionismus und Konsum sind typische Stressbewältigungsstrategien.

© Maria Hackethal

Welche Strategie entwickelst du mit deinen Klienten, um dem zu begegnen?

Die Strategien sind individuell. Aber allen gemeinsam ist Achtsamkeit. Es ist höchst interessant, mal hinzufühlen: Was ist denn da, bevor ich mir die Flasche Wein aufmache? Zalando oder Amazon öffne? Was ist da wirklich, wenn Ruhe einkehrt? Wir können mit ganz schwierigen Dingen wirklich sein. Erst dann kommen wir in Kontakt mit der Frage: Was brauche ich denn wirklich? Vielleicht bemerke ich dann, dass ich eigentlich einsam bin. Oder hilflos. Frustriert. Erschöpft. Und dann bewusst entscheiden. Es gibt Menschen wie mich, die das begleiten können.

Zum Glück. Dennoch schauen einige Menschen vielleicht auch schon deshalb nicht gern auf schwierige Gefühle, weil sich solche Momente wie Kaugummi ziehen. Hingegen erleben wir es immer wieder, dass die Zeit in schönen Momenten rast. Warum ist das so?

Es entspricht unserer menschlichen Natur. Es ist natürlich, dass wir Negatives eher wahrnehmen. Das Angenehme möchten wir festhalten. Hingegen wollen wir das, was schlecht und negativ ist, nicht haben. Das drücken wir weg. Stichwort: Ball.

Was ebenfalls sehr interessant ist: das Neutrale, was zwischen dem Angenehmen und Unangenehmen liegt, nehmen wir häufig gar nicht wahr. In der Achtsamkeit üben wir, alles wahrzunehmen. Auch die neutralen Momente. Plötzlich bemerken wir, auch ein Moment, der jetzt nicht besonders toll oder besonders schlecht ist, hat seine Berechtigung und kann mir viel geben.

Ist das das typische Beispiel, wenn ich mir mal wieder die falsche Kasse aussuche im Supermarkt und dann gefühlt noch fünf Minuten länger stehe, mich aber darüber nicht ärgern möchte und dann in mich gehe und atme?

Oder mich dann noch ärgere, weil ich mich doch ärgere [lacht]. Wieder die falsche Kasse, das ist die Bewertung. Der Moment ist so, wie er ist. Ich habe die Möglichkeit zu denken, wieder die falsche Kasse. Letztlich ist es ein Moment meines Lebens. Es ist egal, ob angenehm oder unangenehm, es ist ein Moment Leben.

 

»Wenn wir aber Gewahrsein üben, achtsam sind, dann öffnen wir uns für kleine unscheinbare Momente.«

 

Zurück zu deiner Gefühlslage in der Übergangsphase vom Modedesign zu Psychologie. Welches Gefühl war vordergründig spürbar?

Bemerkt habe ich tiefe Unzufriedenheit. Es brauchte Klarheit und eine Entscheidung. Wovon wollte ich mehr in meinem Leben? Am Ende war es gar nicht nur dieses Studium, also die berufliche Veränderung. In diesem Zusammenhang ist viel passiert.

Braucht es Mut für so eine Veränderung?

Unbedingt. Ich glaube, es braucht Mut, um die Gefühle anzuschauen. Authentisch zu sein. Es braucht Mut, zu sagen: Mir geht es nicht gut.

Und welche Rolle spielt Dankbarkeit in dem Ganzen?

Dankbarkeit und Freude sind tief in uns verankert. Im Autopiloten ist unser Blick oft auf Dinge ausgerichtet, die uns fehlen. Die wir nicht haben. Die wir nicht können. Was noch fehlt, zum großen Glück. Wenn wir aber Gewahrsein üben, achtsam sind, dann öffnen wir uns für kleine unscheinbare Momente. Kleine Wunder des Alltags, wie ein Luftzug auf der Haut. Wind im Gesicht. Ein fremdes Lächeln im Vorbeigehen. Wenn wir zur Ruhe kommen und ein achtsames Leben führen, kommen wir auch mit diesen Qualitäten wieder in Kontakt. Das können wir empfinden, wenn unser Geist zur Ruhe kommt. Wir brauchen unbedingt Gewahrsein, Ruhe und Stille.

Welchen allerersten Schritt muss ein Mensch gehen, der mehr Achtsamkeit in sein Leben integrieren möchte?

Wir müssen etwas ändern wollen. Die Entscheidung treffen. Es geht mit Anstrengung einher, gelernte Verhaltensweisen und Überzeugungen verändern zu wollen. Die Aussicht auf ein Leben in Achtsamkeit ist jede Anstrengung wert.

 

 

Du möchtest mehr über die Kurse und individuellen Angebote von Mareen erfahren, dann folge dem Link hier und öffne der Achtsamkeit die Tür.

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